Eine der ersten Tagungen zur Erlebnispädagogik im
deutschsprachigen Raum hatte den programatischen Titel „Erlebnispädagogik:
Mode, Methode oder mehr?“ (Bedacht et al. 1992). Diese Frage hat die
Erlebnispädagogik seitdem nicht mehr losgelassen. Ist sie ein emanzipatorischer
Ansatz oder letztlich nur ein Sammelbecken für eine Vielfalt interessanter
Methoden, die man mit weitgehend beliebiger Zielrichtung einsetzen kann? Mit
Bezug auf eine Aufbruchbewegung früherer Zeiten formuliert Leo Kauffeldt es
besonders prägnant: „Sind wir aus den Mauern der grauen Städte ausgezogen, oder
nutzen wir die Mauern, um lediglich an ihren Innenseiten klettern zu üben?“
(1996, 8).
Unter der Überschrift „Zu neuen Ufern“ fand kürzlich erneut
eine der inzwischen regelmäßigen Fachtagungen statt (Paffrath 1998). Darin wird
die Aufbruchstimmung, welche das erlebnispädagogische Arbeitsfeld derzeit
kennzeichnet, treffend zum Ausdruck gebracht. Wenngleich insbesondere
Outdoor-Aktivitäten an und für sich eine gewisse Faszination ausstrahlen wären
sie als Methoden alleine wohl kaum in der Lage, eine solche Stimmung zu
verbreiten. Was aber sind die Charakteristika und Ziele des pädagogischen
Aufbruchs? An welchen Leitgedanken kann sich eine erlebnispädagogische Arbeit
orientieren, und an welchen konkreten Merkmalen läßt sich erlebnispädagogisches
Handeln in der Praxis erkennen?
Wenngleich der erlebnispädagogischen Praxis in den letzten
Jahren eine umfangreiche Literatur gefolgt ist, ist das Feld von einer halbwegs
einheitlichen Theoriebildung weit entfernt. Das hat durchaus Vorteile: in der
Vielfalt von Praxisfeldern - Schule, außerschulische Jugendarbeit,
Heimerziehung, Bewährungshilfe, betriebliche Weiterbildung, Managementtraining
u.a. - kommt so eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansätzen zum tragen. Es
liegt darin aber auch eine Gefahr: Abenteuer, Risiko und Erlebnis können
ohnehin auch von anderen Kräften und Interessen vereinnahmt, pädagogische
Elemente hingegen weitgehend verwässert werden.
Im folgenden soll daher der Versuch unternommen werden,
mögliche Antworten auf die oben gestellten Fragen zu geben1
. Drei Leitideen bilden dabei eine Art gedankliches Gerüst:
Wachstumsorientierung,
Ganzheitlichkeit und Selbstorganisation. Diese Prinzipien stehen in
Abgrenzung zu vorherrschenden Lernparadigmen, welche die Praxis der Schule
weitgehend bestimmen. Sie sind ihrerseits in philosophischen Traditionen
verwurzelt und haben sich seit der Zeit der Reformpädagogik im ersten Drittel
dieses Jahrhunderts immer wieder in Form von innovativen Ansätzen in der Schule
manifestiert.
Die genannten Leitideen haben natürlich über die Pädagogik
hinaus Bedeutung. In der Tat sind wesentliche Impulse, die das Denken in diese
Richtung beeinflußt haben, aus dem Bereich anderer, insbesondere der
Naturwissenschaften gekommen. Vor allem Ganzheitlichkeit und Selbstorganisation
sind Schlüsselbegriffe im Zusammenhang eines sich zur Zeit vollziehenden
Paradigmenwechsels (Capra 1996) von einem mechanistischen Weltbild hin zu einem
Denken in Netzwerken und Systemen.
Diese Zusammenhänge sind insofern interessant, als die
Sozialwissenschaften sich in ihrer Arbeitsweise sehr stark an das empirische
Forschungsmodell der Naturwissenschaften angelehnt haben. Auch wenn man das
eher kritisch sehen mag - ein neues Denken in den Naturwissenschaften wird mit
großer Wahrscheinlichkeit auch Auswirkungen auf das Denken und Handeln in den
Sozialwissenschaften haben.
Die Hintergründe und Zusammenhänge dieses Paradigmenwechsels
sind allerdings so komplex, daß sie hier immer nur angedeutet werden können.
Dies geschieht im Bewußtsein, daß die Übertragung von Erkenntnissen von einem
Kontext in einen anderen immer die Gefahr von Vereinfachungen, Verzerrungen
oder auch Fehlinterpretationen mit sich bringt.
Den Leitideen sind jeweils mehrere Arbeitsprinzipien
zugeordnet, die als Ganzes ein Konzept erlebnispädagogischen Handelns abstecken
sollen. Auch diese Arbeitsprinzipien haben in einem weiter gefaßten
pädagogischen Kontext Bedeutung und können somit Richtungen für eine
wünschenswerte schulische Entwicklung insgesamt weisen. Ein Anspruch auf
Vollständigkeit besteht dabei nicht.
Wenngleich versucht werden soll, die Arbeitsprinzipien so
konkret wie möglich zu veranschaulichen, dürfen sie doch nicht mit
Handlungsanweisungen verwechselt werden. Zu komplex und immer wieder anders
sind zwischenmenschliche Situationen, als das einfache Rezepte etwas taugen
könnten. Häufig werden daher eher Spannungsfelder aufgezeigt, in denen es neben
einer bewußten Reflexion handlungsrelevanter Zusammenhänge auch auf ein Gespür
für das Einmalige der Situation ankommt. An dieser Stelle enden die
Möglichkeiten einer theoretischen Darstellung, und die Notwendigkeit einer
reflexiven Praxis (Schön 1982) wird deutlich.
Getreu dem Motto von Giambattista Vico „Wissenschaft besteht
darin, die Dinge in eine schöne Ordnung zu bringen“ (zit. nach Watzlawick 1992,
89) wird hier der Versuch unternommen, ein möglichst „rundes“ Konzept zu präsentieren.
Das geschieht allerdings in dem Bewußtsein, daß vielfache Zusammenhänge,
Überschneidungen und natürlich auch Auslassungen andere Ordnungen ebensogut
zulassen würden.
1.
Wachstumsorientierung
Zunächst könnte man die Frage stellen: ist nicht jede
Pädagogik wachstumsorientiert? Ein Blick auf zentrale Praktiken der Schule
zeigt aber, daß vieles, was Tag für Tag kaum hinterfragt stattfindet, gerade
aus der gegenteiligen Perspektive, nämlich einer Defizitorientierung zu
verstehen ist. Viel Aufmerksamkeit wird Fehlern gewidmet, sie werden optisch
hervorgehoben, addiert, verrechnet und sind die vielleicht bedeutsamste
Grundlage der Notengebung und der Bewertung des Lernfortschritts. Im Bereich
des Verhaltens werden SchülerInnen, die Schwierigkeiten haben, sich den
gegebenen Rahmenbedingungen anzupassen, als verhaltensgestört oder gar
therapiebedürftig bezeichnet. Generell scheint es, als ob LehrerInnen sich
leichter täten, die Schwächen von SchülerInnen wahrzunehmen und zu besprechen,
als deren Stärken.
Das hat sicher auch etwas mit den gesellschaftlichen
Erwartungen, die an die Schule herangetragen werden, zu tun. Analog zur
Psychologie, die sich mit der Korrektur abweichenden Verhaltens beschäftigen
soll, wird es als Aufgabe der Pädagogik gesehen, Kindern und Jugendlichen mehr
oder weniger vorgefertigtes Wissen nahe zu bringen. Immer steht die -
weitgehend unreflektierte - Anpassung an Bestehendes im Vordergrund. Dem liegt
letztendlich die Vorstellung zugrunde, daß Kontrolle - von Wissen, von Menschen,
von Entwicklungen- wünschenswert und grundsätzlich möglich ist.
Dieses Denken war lange Zeit auch in den Naturwissenschaften
vorherrschend. Man ging davon aus, daß komplexe physikalische, chemische oder
biologische Zusammenhänge sich auf einige wenige Grundgesetze zurückführen
lassen würden, und daß die Kenntnis dieser Gesetze eine kontrollierte
Einflußnahme und Steuerung dieser Zusammenhänge ermöglichen würde. Mit der
Chaostheorie wurde diese Sichtweise ernsthaft herausgefordert. Man hatte
entdeckt, daß als geordnet geglaubte Zustände ins Chaos übergehen können, und
daß aus dem Chaos heraus spontan neue Ordnungen entstehen können. Solche
Veränderungen ließen sich durch Verstörungen des Ausgangszustandes in Gang
setzen, keinesfalls jedoch in ihren Auswirkungen vorhersagen.
Übertragen auf den pädagogischen Bereich könnte das
bedeuten: der Versuch, Lernprozesse so genau wie möglich an im Voraus
festgelegten Zielen auszurichten und zu kontrollieren, ist grundsätzlich zum
Scheitern verurteilt und sollte aufgegeben werden zugunsten eines
Lernverständnisses, das auf Anregungen und Anstöße und auf die Möglichkeit
erstaunlicher und unvorhergesehener Entwicklungen setzt.
Ein gewagtes Unterfangen für vorsichtige Geister. Und doch
ist das der Kern dessen, was in der Reformpädagogik schon lange praktiziert
wird. Im Zentrum aller Überlegungen steht hier die Entfaltung der Potentiale,
die in den Lernenden angelegt sind. Der Focus verschiebt sich dabei von einer
Vermittlung von Inhalten zu einer Vermittlung von Kompetenzen, sich Inhalte
anzueignen. Lerntechniken wird stärkere Aufmerksamkeit gewidmet und allem voran
der Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden; eine
Fähigkeit, die in einer Zeit sich explosionsartig entwickelnden Wissens von
unschätzbarem Wert sein dürfte. Noch bedeutsamer ist vielleicht der Grundsatz,
die natürliche Lernfreude zum Ausgangspunkt neuer Erfahrungen zu machen und den
Lernenden ein Gefühl der Zuversicht zu vermitteln.
In einem Satz ausgedrückt ist das Ziel aus wachstumsorientierter
Perspektive, SchülerInnen eine Weile auf
einem Weg zu begleiten, den sie als lebenslang Lernende fortsetzen. Für die
Erlebnispädagogik bringen Kimball und Bacon dieses Konzept auf einen Nenner:
„Während die meisten traditionellen Behandlungsprogramme die Jugendlichen als
krank und abhängig definieren, ist die therapeutische Reise in der Wildnis
weitgehend eine der Selbstentdeckung und Autonomie“ (1993, 34, Übers. rg). Daß
diese Reise keineswegs ein unbeschwerter Spaziergang ist, dürfte anhand der im
folgenden zu erläuternden Arbeitsprinzipien deutlich werden.
1.1. Herausforderung
„Die Krise ist ein produktiver Zustand,
man muß ihr nur den Beigeschmack von Katastrophe nehmen.“
Max Frisch
Kaum ein anderer Schlüsselbegriff taucht in der
erlebnispädagogischen Literatur so oft auf, wie „Herausforderung“, bzw. das
englische Pendant: „challenge“. Was ist wirklich damit gemeint? Ein Blick auf
die Beschreibung des erlebnispädagogischen Lernprozesses, die Nadler und
Luckner (1992, 7ff) gegeben haben, kann darauf vielleicht eine Antwort geben:
Ausgangspunkt der Arbeit ist es, die TeilnehmerInnen in
einen Zustand des Ungleichgewichts zu
versetzen. In der Regel wird das dadurch erreicht, daß sie in eine neuartige Situation gebracht werden, in
der sich einzigartige
Problemlöseaufgaben stellen. Gleichzeitig wird ein kooperatives Umfeld geschaffen, so daß die Aufgaben bewältigbar
sind und Erfolgserlebnisse möglich
werden. Über eine Reflexion wird
schließlich Generalisierung und Transfer
der neuen Lernerfahrung angestrebt.
Den Kern eines Ungleichgewichtszustandes sehen Nadler und
Luckner darin, daß „im Bewußtsein des Individuums ein Mißverhältnis zwischen
neuer Information und der gewohnten Art zu denken besteht“ (7, Übers. rg). Ein
Ungleichgewicht, eine Verstörung, eine Spannung oder wie immer man den Zustand
beschreiben will, ist im Rahmen dieser Theorie quasi die Grundvoraussetzung
dafür, daß Lernen stattfinden kann. Im Gleichgewichtszustand besteht dazu keine
Veranlassung. Für letzteren haben Nadler und Luckner den Begriff der „comfort
zone“ geprägt bzw. aufgegriffen. Das ist der Bereich des Bekannten, Vertrauten
und Vorhersagbaren, in dem das Individuum sich sicher bewegt. Solange es
innerhalb dieses Bereiches verweilt, bleibt es allerdings auch stehen,
entwickelt sich nicht weiter. Wachstum
und Lernen haben immer etwas mit Risiko zu tun, mit einem Aufbruch ins
Unbekannte, Ungewisse, Unvorhersagbare.
Kritisch läßt sich zu diesem Modell natürlich anmerken, daß
es die Impulse, die der Lernprozeß von außen erhält, einseitig hervorhebt.
Lernen hängt aber auch von einer inneren Bereitschaft, Neues überhaupt an sich
heranzulassen, ab. Insofern bedarf ein Zustand des produktiven Ungleichgewichts
nicht immer des äußeren Anstoßes. Und umgekehrt kann die innere Befindlichkeit
so sein, daß eine Störung des Gleichgewichts unangebracht ist.
Was aber sind die Qualitäten einer Herausforderung, die
einen produktiven Ungleichgewichtszustand auszulösen vermögen? Drei
Charakteristika bieten sich zur Beschreibung an:
·
Neuartigkeit:
Auf alles, was wir gut kennen oder zu kennen glauben, reagieren wir in der
Regel mit relativ automatisierten Denk- und Verhaltensmustern. Nadler und
Luckner betonen deshalb die Bedeutung, die eine neue und ungewohnte Umgebung
haben kann. Geradezu ideal ist in dieser Hinsicht die klassische
Abenteuerlandschaft: die Berge, das Meer, oder ein anderer Ort in der Natur,
die uns Zivilisationsmenschen in der Regel ziemlich fremd geworden ist. Aber
bereits ein Selbstversorgerhaus, in dem die Gruppe für ein paar Tage ohne große
Ablenkungen der Außenwelt auf sich gestellt ist, kann diese Funktion gut
erfüllen. Rohnke (1989) gibt zahlreiche Anregungen, wie der Einsatz witziger
Materialien bei einer stärker spielerisch orientierten Arbeitsweise ein Gefühl
von Neuheit und spannender Erwartung auslösen kann. Schon ein Softball oder ein
Strandball beispielsweise verleiten uns eher kreativ zu denken als ein Fußball
oder ein Volleyball. Mindestens so bedeutsam wie äußere Faktoren ist aber wohl
die Fähigkeit der LehrerIn, scheinbare Vertrautheit zu hinterfragen, in Altem
Neues zu erkennen, und damit auch die SchülerInnen herauszufordern, jenseits
ihrer gewohnten Denk- und Handlungsmuster neue Perspektiven zu entdecken.
·
Aufforderungscharakter:
Neue Angebote müssen an vorhandene Interessen und Bedürfnisse anknüpfen. Zudem
sollte eine Herausforderung ein klares und überschaubares Feld an
Handlungsmöglichkeiten eröffnen, in dem Erfolgserlebnisse realisiert werden
können. Von daher sind Outdoor-Aktivitäten wie Klettern oder Kanufahren, die
Jugendlichen spannende körperliche Erfahrungen in einem interessanten
Sinnzusammenhang versprechen, äußerst wertvolle Medien. Abenteuerspiele und
-aktivitäten haben ebenfalls eine ausgeprägte körperliche Komponente und laden
unmittelbar zum Handeln ein. Grundsätzlich ist das Feld erlebnispädagogischer
Medien so weit, wie die intrinsische Motivation der Jugendlichen angesprochen
bzw. aktiviert werden kann.
·
Ernstcharakter:
Eine grundlegende Idee des erlebnispädagogischen Ansatzes ist es, daß
Lernprozesse angestoßen, in ihrem weiteren Verlauf aber möglichst wenig seitens
der LehrerInnen kontrolliert werden sollten. Das impliziert natürlich auch eine
kritische Sichtweise von Verstärkungen: Belohnungen oder Bestrafungen nehmen
der Herausforderung etwas von ihrer Authentizität. Wo immer selbstregulative
Prozesse an deren Stelle treten können, sollte dies zugelassen werden. Die
Natur ist dafür ein besonders gutes Beispiel. Sie kennt weder Belohnungen noch
Bestrafungen, nur Konsequenzen. Angesichts ihres nicht wegzudiskutierenden
Ernstcharakters, etwa der einfallenden Dunkelheit oder des drohenden Regens
während einer Orientierungswanderung, erübrigen sich manche Mahnungen.
Voraussetzung ist allerdings, daß man auch bereit ist, die Konsequenzen wirklich
wirken zu lassen. In diesem Sinne kann auch der soziale Kontext, die
Gruppenprozesse also, die ja stets „nebenher“ ablaufen, einen produktiven
Ernstcharakter bekommen, wenn ein ausreichend großer Rahmen für autonome
Entscheidungen der Jugendlichen abgesteckt wird.
Ein folgenschweres Mißverständnis wäre es, die
erlebnispädagogischen Medien selbst bereits für Herausforderungen zu halten.
Herausforderungen manifestieren sich vielmehr in diesen Medien über bestimmte
Aufgabenstellungen. Für die Praxis bedeutet das, daß einerseits das Spektrum
der Aktivitäten, mit denen in einem erlebnispädagogischen Sinne gearbeitet
werden kann, größer ist als das Repertoire der klassischen Medien, also
Outdoor-Aktivitäten und Abenteuerspiele. Andererseits steht und fällt die
Qualität des erlebnispädagogischen Prozesses damit, wie diese Aktivitäten präsentiert und moderiert werden.
Herausforderungen sind nichts Statisches, sie müssen immer wieder aus der
jeweiligen Situation heraus geschaffen werden. Dieser Prozess läßt sich als ein
beständiges Experimentieren beschreiben. Dazu sollen abschließend ein paar
Anregungen gegeben werden:
·
Welches Medium
man auch wählt, es ist immer nur eine
Art Rohmaterial. Am besten läßt sich das am Beispiel von Spielen
veranschaulichen. Von den Spielutensilien über die vielfältigen Aspekte der
Regeln - zeitliche und räumliche Begrenzungen, Rollen, Bewegungsmöglichkeiten,
Erfolgskriterien - bis hin zum Kontext und den Zielen, die im Vordergrund
stehen, läßt sich - innerhalb eines gewissen Spielraums - alles variieren.
Rohnke und Butler (1995, 45ff) geben dazu pragmatische Hinweise und Beispiele.
·
Eine besondere Bedeutung kommt der Variation des Schwierigkeitsgrades der
Aufgaben zu. Herausforderungen müssen anspruchsvoll sein, ihre Bewältigung
andererseits auch im Bereich der Möglichkeiten der TeilnehmerInnen liegen.
Genau das richtige Niveau zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Murray (in:
Rohnke 1989, 106ff) illustriert diesbezügliche Überlegungen anschaulich am
Beispiel des Abenteuerspiels „Spinnennetz“.
·
Herausforderungen müssen der Vielfalt und
Heterogenität der TeilnehmerInnen gerecht werden. Wenn immer möglich, sollten im Rahmen einer Aufgabenstellung
alternative Handlungsmöglichkeiten bestehen, welche die Bewältigung
unterschiedlich großer Schwierigkeiten und den Einsatz verschiedener
Fähigkeiten erlauben. Aus dem gleichen Grunde ist ein Wechsel vielfältiger
Aktivitäten der Arbeit mit nur einem Medium vorzuziehen. Schließlich können
Aufgabenstellungen, die sich an die Gruppe als Ganzes wenden mit individuellen
Herausforderungen, wie etwa einem Solo - einer Zeit, die man ganz mit sich
alleine verbringt - abwechseln.
Zuletzt sei noch eine Überlegung jenseits der unmittelbaren
Planung von Arbeitseinheiten und Projekten angemerkt. Wer gezielt mit Herausforderungen
arbeitet, sollte ein Gefühl dafür haben, wie es ist, wenn man den Bereich des
Vertrauten verläßt. Das erfährt man natürlich am besten, wenn man auch sich
selbst immer wieder neuen Herausforderungen stellt. Das werden vielleicht ganz
andere sein als jene, die man den SchülerInnen präsentiert.
1.2. Problemlösung
„Wenn Du Menschen sagst, wo sie hingehen sollen, aber nicht,
wie sie dort hinkommen,
wirst Du über die Ergebnisse überrascht sein.“
George Patton
Lernen an Herausforderungen, wie es hier beschrieben worden
ist, fordert die Beteiligten in vielfältiger Weise. Und es fördert in diesem
Sinne ihre Begabungen, etwa im Sinne der emotionalen Intelligenz (Goleman 1995)
oder der körperlich-kinästhetischen und der personalen Intelligenz (Gardner
1983). Aber hat es auch noch etwas mit Lernen im klassischen Sinne zu tun?
John Dewey, einer der Reformpädagogen, welche die Grundlagen
für eine erfahrungsorientierte Pädagogik gelegt haben, formulierte dazu
pointiert: „Wachstum beruht auf dem Vorhandensein von Schwierigkeiten, die
durch den Einsatz von Intelligenz überwunden werden“ (1938, 79, Übers. rg). Und
den Begriff Intelligenz verwendete er hier durchaus im allgmein üblichen Sinne.
Erfahrungsorientierung impliziert keine
Ausschaltung des Denkens. Das Gegenteil ist der Fall.
Die Herausforderungen, die am Anfang des Lernprozesses
stehen, sind in der Regel komplexe Problemstellungen, die, obwohl physischer
Natur, allein durch den Einsatz körperlicher Fähigkeiten wie Kraft,
Geschicklichkeit und Schnelligkeit nicht zu lösen sind. Mindestens genauso groß
sind die mentalen Anforderungen. Fast immer ist es so, daß eine sorgfältige
Planung sich bezahlt macht. Das Ausarbeiten einer Strategie erweist sich
gegenüber einem blinden Versuch-und-Irrtum Vorgehen als überlegen. Flexibilität
im Denken ist gefragt, wenn Pläne angesichts einer widerspenstigen Realität
angepaßt oder umgeworfen werden müssen. Auch im emotionalen und sozialen
Bereich wird einiges verlangt. Entscheidungen müssen gemeinsam getroffen
werden, ohne daß die Art der Entscheidungsfindung vorgegeben wird. Dabei kommt
es zwangsläufig auch zu Konflikten. Enttäuschungen und Frustrationen müssen
verarbeitet werden. Immer wieder muß ein neuer Anfang gemacht werden.
Problemlöseprozesse sind oft mühsam, zäh und
spannungsgeladen. Unter dem Blickwinkel der Animation eines leicht verdaulichen
und unbeschwerten Erlebnisprogramms würde man alles tun, um sie den
TeilnehmerInnen zu ersparen. In der Erlebnispädagogik gehören sie zum Konzept. Der Zustand des Ungleichgewichts dient vor
allem einem: komplexe Lernprozesse in Gang zu setzen.
Einige Aspekte dieses Lernverständnisses sollen hier kurz
umrissen werden:
·
Die Lernsituation wird so gestaltet, daß sich
eine Notwendigkeit zum eigenen Handeln für die SchülerInnen unmittelbar daraus
ergibt. Das kann sehr direkt durch eine klar umrissene Aufgabenstellung
geschehen, wie etwa in einem kooperativen Abenteuerspiel, oder auch indirekt im
Rahmen einer offenen und zunächst unstrukturierten Situation, wie dem
Aufenthalt in einem Selbstversorgerhaus. Fürst (1992, 34ff) spricht in diesem
Zusammenhang von der „Dynamik der
unfertigen Situation“. Drei
Elemente zeichnen die Struktur dieser Situation aus: konstruktive
Gestaltungsmöglichkeiten, viel Unfertiges und Elemente zur Begrenzung
destruktiver Entwicklungen.
·
Die LehrerInnen
passen ihre Rolle den Phasen des Lernprozesses an. Während es eines
durchdachten Impulses zur Eingabe der Herausforderung bedarf, halten sie sich
im Verlauf des Problemlöseprozesses so weit wie möglich zurück, damit die
Dynamik der jeweiligen Gruppe zum Tragen kommen kann. Insbesondere
Hilfestellungen sind äußerst sorgfältig daraufhin abzuwägen, ob das, was man
vorschlägt, nicht von den SchülerInnen selbst entdeckt werden könnte.
·
Auch bei einer klaren Problemstellung mit einem
eindeutig abgesteckten Ziel, wie z.B. dem Bau eines Floßes zur Überquerung
eines Sees, geht es nicht nur um das Erreichen dieses Ziels. Mindestens genauso
wichtig wird der Prozess der Problemlösung selbst genommen. Aufgaben werden als
Chancen gesehen, etwas über die eigenen Handlungsmechanismen zu lernen und sie
gegebenenfalls zu verändern. Entsprechend liegt die Betonung bei den
Präsentationen weniger auf detaillierten Anforderungen an die Qualität des
Produktes, als auf Anforderungen an die
Qualität des Prozesses, insbesondere auf der grundsätzlichen Bereitschaft,
sich einzulassen und zu der gemeinsamen Anstrengung beizutragen.
·
Aus dem bislang Gesagten resultiert ein anderer
Umgang mit Fehlern. Statt als lästige und möglichst auszuschaltende
Störfaktoren werden Fehler als
natürliche Elemente eines jeden Lernprozesses und darüber hinaus als willkommene Lernchancen betrachtet.
Wenn Fehler vermieden werden sollen, führt das in der Regel zu Angst und Blockierungen.
Eine Sichtweise von Fehlern als Lerngelegenheiten hingegen eröffnet mit jeder
Sackgasse neue Perspektiven und Erkenntnisse, die über den direkten Anlaß
hinaus nützlich sein können.
In der Wahl des Wortes „Problemlöseprozesse“ steckt bereits
eine semantische Botschaft, die es in der Präsentation des
erlebnispädagogischen Ansatzes zu transportieren gilt. Sie könnte kurzgefasst
wie folgt lauten: Es gibt eine Menge Probleme,
überall und immer wieder. Sie lassen sich lösen,
auch wenn zunächst einmal völlig unklar ist, wie das gehen soll. Man muß nur
den Mut und die Ausdauer haben, die Probleme gemeinsam anzupacken.
Gass und Gillis (1995) zeigen auf, daß diese Botschaft
konsequenterweise mit einem Arbeitsansatz einher geht, welcher sich stärker auf
die Schritte auf dem Weg zur Lösung als auf die noch verbleibenen
Schwierigkeiten konzentriert. Dafür spricht in jedem Fall, daß sich mit einer
nach vorne gerichteten Perspektive eine positivere Energie mobilisieren läßt,
als mit einem Blick zurück in Zorn oder Frustration.
Unbesehen davon sollte nicht der Eindruck erweckt werden,
daß alle Probleme grundsätzlich
lösbar sind. Es kann ebenfalls eine wertvolle Lernerfahrung sein, bestimmte
Schwierigkeiten in ihrem So-sein zu akzeptieren und sie eben nicht mehr verändern
zu wollen.
1.3. Grenzerfahrung
„Das Leben ist ein Risiko. Mehr Risiko kann auch mehr Leben
bedeuten.“
Henrik Ibsen
Auch ein intrinsisch motivierter Lernprozeß, in dem
Schwierigkeiten als Chancen betrachtet werden, braucht Höhepunkte. So sind denn
auch Erfolgserlebnisse ein konstitutives Element in Nadlers und Luckners
Modell. Die Höhepunkte des erlebnispädagogischen Lernprozesses haben aber auch
noch eine andere Qualität, die sich am treffendsten als Grenzerfahrung
beschreiben läßt.
Jenseits des Gleichgewichts im Bereich des Bekannten und
Vertrauten, so die Überzeugung dieser wie wohl jeder wachstumsorientierten
Pädagogik, liegen im Menschen ungeahnte Möglichkeiten, auf die er normalerweise
nie zurückgreift. Nur auf der Grundlage eines Menschenbildes, das an diese
Möglichkeiten und Potentiale glaubt, ist eine Pädagogik, die auf
Herausforderungen und Destabilisierungen setzt, überhaupt verantwortbar.
Was aber passiert, wenn jenseits der Grenzen des bislang
Möglichen neue Erfahrungen gemacht werden? Csikszentmihalyi (1987) hat solche
Momente jenseits von Angst und Langeweile eingehender erforscht und für sie den
Ausdruck „flow“ geprägt. Er beschreibt Flow-Erlebnisse
anhand folgender Kriterien:
Grundvoraussetzung ist die Freiheit der Wahl, d.h. Flow kann nur da entstehen, wo Menschen
sich selbst als Lenkende und Entscheidende erleben. Die bewußte Konzentration
auf eine bestimmte Tätigkeit führt zu einer Zentrierung der Aufmerksamkeit, bei der alles, was nicht
unmittelbar bedeutsam ist, aus dem Bewußtsein verschwindet. Beim Handeln
besteht ein Gefühl der Kompetenz und
Kontrolle. Es geht einher mit einer Klarheit
der Ziele und der Rückmeldungen, d.h. die Konsequenzen der eigenen
Handlungsschritte sind unmittelbar einsichtig und überschaubar. Angesichts
dessen kommt es zu einer Verschmelzung
von Handlung und Bewußtsein, die Gedanken beschäftigen sich mit dem, was
man tut, und man tut was man denkt. In diesem Zustand ist eine Überschreitung der Ich-Grenzen möglich,
man ist ganz eins mit sich selbst und gerade dadurch in einem intensiven
Kontakt mit der Umwelt.
Flow-Erlebnisse sind ganz offensichtlich Augenblicke eines
gesteigerten Lebensgefühls, die allein um ihrer selbst willen gesucht werden.
Darüber hinaus ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie solche Erlebnisse,
um noch einmal mit Kimball und Bacon zu sprechen, ein „Frontalangriff auf
gelernte Hilflosigkeit, Abhängigkeit und geringes Selbstwertgefühl“ sind. Die
besondere Chance von Flow-Erlebnissen, zu einer positiven Veränderung des
Selbstbildes beizutragen, liegt darin, daß das positive Selbstbild mit den
Aspekten Freiheit, Kompetenz und Orientierung im Flow-Erleben selbst schon
vorhanden ist.
Die Grenzerfahrung hat aber auch eine andere, eher
bedrohliche Seite. Schoel, Prouty und Radcliffe bringen das sehr klar auf den
Punkt, wenn sie schreiben: „Herausforderung ist ein zweischneidiges Schwert.
Während sie einerseits die Möglichkeit zu Veränderung und Erfolg bietet, legt
sie andererseits auch die Dinge offen, vor denen wir Angst haben: Gesichtsverlust,
Versagen und Verletzung“ (1988, 130, Übers. rg). Nicht jede Erfahrung an der Grenze ist eine Grenzüberschreitung.
Manchmal müssen wir auch zurückweichen, die Grenze anerkennen, oder beim
Versuch, sie zu überschreiten scheitern. Oder wir müssen unsere eigenen Grenzen
gegen die Überschreitung durch andere wahren. Wenngleich solche Erfahrungen
nicht unbedingt erfreulich sind, liegt auch in ihnen ein großes Lernpotential.
Damit sie positiv verarbeitet werden können, bedürfen sie allerdings einer einfühlsamen
Begleitung. Die Metapher vom „Frontalangriff“ ist also durchaus kritisch zu
hinterfragen. In manchen Situationen mag „behutsames Schmelzen“ ein
angemesseneres Bild sein. Schließlich sind auch Sicherheit und Geborgenheit
wertvolle Grenzerfahrungen, ja letztlich sogar die Grundlage des Vertrauens,
Grenzen erforschen und überwinden zu können.
Grenzerfahrungen sind ein weites Feld, das von der
erlebnispädagogischen Literatur und Praxis bislang vielleicht noch nicht
umfassend genug verstanden worden ist. Fürst (1992, 71ff) liefert in dieser
Hinsicht einen wertvollen Beitrag, indem er vier verschiedene Typen von
Grenzerlebnissen zu unterscheiden versucht:
- das Durchbeißen,
bei dem das Überschreiten der eigenen Grenzen im Vordergrund steht,
- das Ertragen,
bei dem es umgekehrt um ein Akzeptieren eigener Grenzen geht,
- das Erforschen der
Selbstbegrenzungen, bei dem die bewußte Wahrnehmung der Situation an der
Grenze gefördert wird,
- die Gestaltung von
Beziehungen, bei welcher der Focus auf dem Umgang mit zwischenmenschlichen
Grenzen liegt.
Aus all dem wird deutlich, daß der Umgang mit
Grenzerfahrungen eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe ist. Ohne den
Anspruch, alle Aspekte einer solchen Arbeit erfassen zu können, sollen wiederum
einige praktische Hinweise zu diesem Bereich gegeben werden:
·
Ohne
subjektives Risiko ist keine Grenzerfahrung möglich, ohne objektive Sicherheit
ist sie pädagogisch nicht verantwortbar. Herausforderungen werden also
idealerweise so präsentiert, daß das subjektive Risiko als hoch erlebt wird,
jenseits von Langeweile, aber doch wieder nicht so hoch, daß panische Angst
ausgelöst wird. Eine hundertprozentige objektive Sicherheit kann es natürlich
auf der anderen Seite nie geben. Aber alle Abläufe müssen auf Risiken hin
durchdacht werden, und es müssen umfassende Sicherheitsvorkehrungen vorgenommen
werden, um diese Risiken mit aller Wahrscheinlichkeit auszuschalten (siehe z.B.
Kraus&Schwiersch 1996, Siebert 1992).
Meist ist dies im physischen Bereich eindeutiger einzuschätzen als im psychischen
Bereich. Ein gutes Beispiel für die wünschenswerte Diskrepanz zwischen hohem
subjektiven Risiko und geringem objektiven Risiko ist das Klettern: Während am
Fels schon in wenigen Metern Höhe ein existentielles Gefühl von Gefahr
aufkommen kann, sind die realen Risiken mit Hilfe moderner Sicherungstechnik -
kompetente Bedienung vorausgesetzt - umfassend zu kontrollieren.
·
Grenzerfahrungen
haben einen Aspekt von Unplanbarkeit. Der Aufbruch ins Ungewisse bringt
auch für die LehrerInnen ein gewisses Maß an Unsicherheit mit sich. Wiederum am
Beispiel Klettern: Nie läßt sich sicher vorhersagen, wie einzelne SchülerInnen
die Situation am Fels erleben, wie sie auf Schwierigkeiten reagieren werden.
Und die entscheidende Situation angesichts einer Grenze kann eine Frage weniger
Sekunden oder langer Minuten sein. Insofern verbietet es sich von selbst, die
Arbeit an Grenzerfahrungen in ein starres Ablaufschema pressen zu wollen.
Angemessen ist vielmehr ein offener Zeitrahmen, der flexibel den Gegebenheiten
der Situation angepaßt werden kann.
·
Arbeit an
Grenzerfahrungen ist eine Arbeit in
und mit dem Augenblick. Da die entscheidenden Momente zeitlich nicht
vorausplanbar sind, kommt der Präsenz der LehrerInnen größte Bedeutung zu. Das
gilt zum einen in einer ganz banalen Hinsicht: man muß einfach immer da sein.
Präsenz meint andererseits mehr als bloße Anwesenheit: die Aufmerksamkeit muß
voll und ganz dem Prozess gewidmet werden. Seitengespräche, Vorbereitungen für
weitere Aktivitäten u.a. beeinträchtigen die Fähigkeit der LehrerInnen, auf das
zu reagieren, was in der Gruppe geschieht. Vielmehr sollte ihr nonverbales
Verhalten signalisieren, daß sie ganz bei der Sache sind. Noch treffender läßt
sich die Qualität einer solchen Prozeßbegleitung mit dem Begriff Achtsamkeit
beschreiben: was immer geschieht, die BegleiterInnen nehmen es aufmerksam war
und sind bereit, unterstützend, konfrontierend oder hinterfragend
einzugreifen.
1.4. Beziehung
„Jede lebendige Situation hat trotz aller Ähnlichkeiten ein
neues Gesicht, nie dagewesen, nie wiederkehrend. Sie verlangt eine Äußerung von
dir, die nicht schon bereitliegen kann. Sie verlangt nichts, was gewesen ist.
Sie verlangt Gegenwart, Verantwortung, dich.“
Martin Buber
Erlebnispädagogik ist ein belebender, gleichwohl auch anstrengender
und manchmal konfrontativer Lernansatz. Die SchülerInnen werden nicht mit
mundgerecht servierten Erlebnissen verwöhnt, sie werden vielmehr gefordert, in
offenen Lernsituationen neue Wege zu entdecken und sich dabei auch noch mit
sich selbst auseinanderzusetzen. Wo den SchülerInnen mehr Verantwortung
zugemutet wird, bedeutet das nicht unbedingt weniger Verantwortung für die
LehrerInnen. Statt dessen verschiebt sich der Focus: sehen LehrerInnen sich im
klassischen Verständnis von Schule in erster Linie als für die Vermittlung von
Inhalten zuständig, liegt die Betonung im erfahrungsorientierten Lernmodell der
Erlebnispädagogik auf der Verantwortung für die Gestaltung des Lernprozesses.
Einige Aspekte dieser Lehrerrolle wurden bereits genannt:
Impulssetzung zu Beginn, Präsenz und gleichzeitig Zurückhaltung während des
Prozesses selbst. Dem zugrunde muß wohl aber noch eine andere Qualität liegen,
die nichts mit Prozessphasen und Rollen zu tun hat. Zwischen LehrerInnen und
SchülerInnen muß eine grundlegende Vertrauensbeziehung bestehen. Ohne eine
solche Beziehung läuft die Erlebnispädagogik Gefahr, einseitig traditionell
männliche Ideale wie Härte, Durchbeißen und Durchsetzung von Stärke zu fördern.
Die Signale, die von einer grundlegenden Vertrauensbeziehung
ausgehen, lauten dagegen:
- Alle SchülerInnen sind o.k., so wie sie sind, unabhängig
von ihrer Leistung und ihrem Lernfortschritt.
- Alle SchülerInnen sind in der Lage, zum Gelingen der
gemeinsamen Erfahrung beizutragen, wenn auf ihre spezifischen Bedürfnisse und
Voraussetzungen eingegangen wird.
- Alle SchülerInnen erleben einen jeweils einzigartigen
Lernprozess, der es wert ist, wahrgenommen und verstanden zu werden.
Am umfassendsten und eindrucksvollsten hat Carl Rogers
(1977) die grundlegenden Qualitäten einer hilfreichen Beziehung mit den drei
Aspekten Wertschätzung,
Einfühlungsvermögen und Echtheit beschrieben. Eine Pädagogik der
Herausforderung tut wahrscheinlich besonders gut daran, ihre Verunsicherungen
und Destabilisierungen auf ein solches Fundament aufzubauen.
Fürst (1992, 118ff) bringt in Bezug auf die Gestaltung von
Beziehungen einen anderen interessanten Gedanken ins Spiel, wenn er zwischen
vier Leitungsfunktionen - Organisator und Vertreter der Normen und Werte,
Experte für erlebnispädagogische Medien, Begleiter von Erfahrungsprozessen und
Erlebnisgefährte - unterscheidet. Die beiden letzten Funktionen betonen die
Beziehungsebene jeweils von einer anderen Seite. Während die BegleiterIn von
Erfahrungsprozessen aus der Rolle des aufmerksamen Beobachters heraus Hilfen
zur Verarbeitung von Erlebnissen anbieten kann, ist die ErlebnisgefährtIn
unmittelbar involviert, hat das gleiche erlebt wie die SchülerInnen selbst. In
solchen gemeinsamen Erlebnissen, wie etwa einer Nachtwanderung durch einen
dunklen Wald, bei der alle ein Gefühl von Unheimlichkeit beschleicht, liegt
natürlich eine besondere Chance zum Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen,
denn alle Beteiligten können auf eine lebendige Erinnerung zurückgreifen, die
manchmal mehr wert ist als tausend Worte.
Nichts würde dem Wesen von Beziehungen mehr widersprechen
als Anleitungen oder Gebrauchsanweisungen. Trotzdem sollen auch hier wieder
einige möglichst konkrete Hinweise zur Beziehungsarbeit gegeben werden:
·
Beziehung
ist nichts Statisches. Sie unterliegt einer Dynamik fortwährender
Veränderung und muß von daher immer wieder neu aufgebaut werden. Vor allem zu
Beginn einer gemeinsamen Arbeit, wie auch am Anfang jeder neuen Arbeitsphase
sollte man sich Zeit nehmen zum gegenseitigen Abtasten, zum Kennenlernen, zum
Anknüpfen an Vergangenes und zur Wiedergewinnung eines Gefühls füreinander. Je
nach Situation können dazu Aufwärmspiele, meditative Einstimmungen oder auch
einfach unstrukturierte Gespräche hilfreich sein.
·
Beziehung
braucht Zeit und Freiheit, um sich zu entwickeln. Muß das Programm auf der
einen Seite intensiv sein, um Spannung zu erzeugen, so darf es andererseits
nicht zu durchstrukturiert sein, daß keine freie Zeit für Gespräche und
Kontakte am Rande bleibt. Auch im Programm selbst sollten aktionsgeladene
Phasen mit ruhigen Abschnitten wechseln, in denen die Möglichkeit zur
gemeinsamen Verarbeitung des Erlebten besteht. Auch in einem noch so spannenden
Programm geschieht das Wichtigste manchmal in den Pausen.
·
Beziehung
braucht echte Begegnung. LehrerInnen müssen als Menschen mit Stärken und
Schwächen wahrnehmbar sein, und dürfen sich nicht hinter ihrer Rolle
verstecken. Gerade in der Erlebnispädagogik besteht die Gefahr, daß
Schülerinnen und mehr noch Schüler, von technischen Aspekten wie Seilen,
Karabinern, Booten etc. fasziniert, die Lehrerin oder wahrscheinlicher den
Lehrer sogar ohne deren großes Zutun in eine Guru-Rolle drängen. Alle
technischen Aspekte erlebnispädagogischer Arbeit sollten daher gegenüber den SchülerInnen
eher im Hintergrund gehalten werden, und LehrerInnen sollten Demonstrationen
ihrer technischen Kompetenzen einzig auf den Bereich der Sicherungsmaßnahmen
beschränken.
·
Beziehung
braucht Flexibilität. So überzeugend das der Erlebnispädagogik zugrunde
liegende Wachstumsmodell auch erscheinen mag, nicht immer ist Wachstum
angesagt. Respektiert werden müssen auch Phasen, in denen die Integration
zurückliegender Erfahrung im Vordergrund steht, und solche, in denen das
Bedürfnis nach Sicherheit die Oberhand behält gegenüber Tendenzen zur
Veränderung. Herausforderungen sind nicht immer für alle SchülerInnen
gleichermaßen angebracht, und man muß ein Gefühl dafür entwickeln, wann
Konfrontation sinnvoll ist, und wann Verständnis gebraucht wird. Die Balance zwischen
Herausforderung und Unterstützung dürfte ohnehin eine der anspruchsvollsten
Aspekte pädagogischer Kunst schlechthin sein.
Vieles, was über die Bedeutung und Gestaltung von
Beziehungen geschrieben worden ist, entstammt dem psychologisch-therapeutischen
Feld, und die meisten LehrerInnen fühlen sich in diesem Bereich eher unsicher.
Doch bedarf es wohl weniger therapeutischer Kompetenzen, um erlebnispädagogisch
zu arbeiten, als eines gewissen Gespürs für nonverbale Botschaften, einer
Bereitschaft zur Selbstreflexivität und der Entschlossenheit, die
sozial-emotionale Seite des Lehrerberufs genauso ernst zu nehmen, wie die
kognitive. Darüber hinaus ist es sicher wünschenswert, wenn in eine Arbeit, die
im Grenzbereich zwischen Pädagogik und Psychologie angesiedelt ist, möglichst
vielfältige Kompetenzen einfließen. Teamarbeit und die Kooperation auch mit
außerschulischen Partnern sind daher grundsätzlich anzustreben.
2. Ganzheitlichkeit
Ganzheitlichkeit ist ein schillernder Begriff. Scheint das
dahinter stehende Konzept auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtend,
verflüchtigt sich das Verständnis um dessen Zusammenhänge bei eingehender
Betrachtung. Das hat vielleicht auch etwas damit zu tun, daß unser Lebensstil
alles andere als ganzheitlich ist, daß unser Denken von einer
reduktionistischen Sichtweise geprägt ist.
Betrachten wir wieder die Schule. Fragmentierung scheint
geradezu das Leitprinzip schulischer Organisation zu sein. Der Unterricht ist
sorgfältig in zahlreiche Fächer untergliedert, in denen Wissensgebiete
nebeneinander und doch meist ohne jeden Bezug zueinander abgehandelt werden.
Auch innerhalb der Fächer ist der gleiche Mechanismus am Werke: in
ausgeklügelten Lehrplänen wird das zu lehrende Wissen in kleine Portionen
eingeteilt, und die zeitliche Abfolge der Vermittlung wird festgelegt. Stephen
Levy karikiert diese Situation treffend: „Die ganze Welt, so scheint es, ist
zur Konsumierung durch die SchülerInnen verarbeitet und verpackt worden“(1996,
19, Übers.rg).
Besonders deutlich ist die Trennung von Verstand, Körper und
Gefühl. Die Schule versteht sich im wesentlichen als Stätte intellektueller
Bildung. Dem körperlichen Bedürfnis nach Bewegung wird mit dem Sportunterricht
noch ein Fach zugeordnet, die emotionale Seite des Menschen bleibt bei der
derzeitigen Konzeption ganz vor der Tür. Während sich in der Grundschule,
begünstigt auch durch die Situation, daß LehrerInnen meist viele Stunden in
einer oder wenigen Klassen unterrichten, ein ganzheitlicheres Lernverständnis
durchzusetzen beginnt, scheint die Fragmentierung in der weiterführenden Schule
und ganz besonders im Gymnasium noch weitgehend ungebrochen.
Diese Praxis steht in einer langen Tradition, die sich bis
auf die griechischen Atomisten zurückverfolgen läßt, und die mit dem Siegeszug
des naturwissenschaftlichen Denkens zum zentralen Paradigma der
Industriegesellschaft geworden ist. Kern des mechanistisch -
reduktionistischen Weltbildes ist die
Annahme, daß sich alle Phänomene erklären lassen, wenn man sie in ihre
einzelnen Bestandteile zerlegt. Auf dieser Basis ist alles grundsätzlich
messbar und berechenbar, Abfolgen von Ereignissen können linear auf eindeutige
Ursachen zurückgeführt werden. Folglich war das Bestreben der Physik lange Zeit
darauf konzentriert, kleinste, unteilbare Grundbestandteile der Materie zu
finden. Gerade dabei bahnte sich aber eine tiefgreifende Wende an. Bei der
Zerlegung von Atomen stieß man auf ein hochkomplexes Geflecht von Partikeln und
Wellen, in dem die alten mechanistischen Prinzipien hoffnungslos versagten.
Selbst auf einer physikalischen Ebene sind die Phänomene offensichtlich nicht
alleine anhand der Kenntnis ihrer materiellen Bestandteile erklärbar. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner
Teile. Es hat immer auch eine Struktur, die nicht schon in den Bestandteilen
angelegt ist.
Ganzheitliches Denken
ist also immer auch systemisches Denken. Dieses Denken zeichnet sich
dadurch aus, daß komplexe Zusammenhänge als Netzwerke verstanden werden, statt
sie in ein klar gegliedertes Raster von Hierarchien zu pressen. An die Stelle
monokausaler Erklärungen tritt die Vorstellung von Rückkopplungen und
Kreisläufen; Veränderungen sind nicht mehr beliebig reversibel.
Für lebendige Organismen scheint ein ganzheitlich -
systemisches Denken unmittelbar angemessener zu sein. Doch das mechanistische
Weltbild hat weit über die Physik hinaus das Denken geprägt, hat zur Entstehung
eines mechanistischen Menschenbildes beigetragen und so auch im pädagogischen
Bereich umfassende Auswirkungen gehabt.
Eine Umorientierung wird daher weit mehr verlangen als die
Einführung neuer Methoden. Zur Disposition stehen das Prinzip des isolierten
Fachunterrichts, die Illusion eines gerechten Vergleichs in Form von Noten, die
Rolle von LehrerInnen als Wissensvermittler und die strikte Trennung von Lernen
und Leben.
Jede einzelne dieser grundsätzlichen Fragen ist in
verschiedenen Ansätzen der Reformpädagogik bereits aufgegriffen worden. Ein
fächerübergreifendes Lernen in Projekten, der Verzicht auf Notengebung
zugunsten verbal-qualitativer Beschreibungen des Lernprozesses, ein
Selbstverständnis der LehrerInnen als BeraterInnen und ein Lernen an
außerschulischen Orten waren und sind einige der Antworten.
Für die Erlebnispädagogik ist Kurt Hahns Motto „Lernen mit
Kopf, Herz und Hand“ zum Leitmotiv geworden. Doch es wäre wohl vermessen, für
diesen wie für irgend einen anderen einzelnen Ansatz eine umfassende
Verwirklichung von Ganzheitlichkeit in
Anspruch nehmen zu wollen. Vielleicht könnte man statt dessen von
ganzheitlichen Inseln sprechen, im Bewußtsein, daß diese immer auch in der
Gefahr sind, auf Methoden in einem mechanistischen Sinne reduziert zu werden.
Ganzheitliches Lernen dürfte zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher eine Vision sein,
die wir selbst immer nur bruchstückhaft verstehen. Ein Wechsel des
Lernparadigmas ist kein Katzensprung , eher „eine unendliche Reise, deren
ganzer Sinn es ist, in Bewegung zu bleiben und nicht zu erstarren“
(Fuhr&Gremmler-Fuhr 1995, 187).
Die im folgenden ausgewählten Aspekte verstehen sich in
diesem Sinne nicht als geschlossenes Konzept von Ganzheitlichkeit; sie sollen
lediglich einige Bereiche, die für die Fortsetzung der erlebnispädagogischen
Reise von Bedeutung sein könnten, genauer beleuchten.
2.1. Wechselspiel von
Aktion und Reflexion
„Ein Mensch hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die
Geschichte dazu -
man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne
Geschichte bleibt, scheint es...“
Max Frisch
Wir sind so an die Verkopfung von Lernprozessen gewöhnt, daß
wir automatisch an eine stärkere Betonung von Körper und Gefühl denken, wenn
von Ganzheitlichkeit die Rede ist. In der Erlebnispädagogik besteht dagegen
eher die umgekehrte Gefahr eines unreflektierten Aktionismus. Dewey findet
eindrückliche Worte, um davor zu warnen: „Das kritische Problem in der
Erziehung besteht darin, eine unmittelbare Aktion, die sich an den Impulsen und
Wünschen orientiert, zurückzustellen, bis Beobachtung und Beurteilung
stattgefunden haben... Die verstandesmäßige Vorausschau, die Idee von
Konsequenzen, muß mit Impulsen und Wünschen zusammenfließen, um eine treibende
Kraft zu werden. Sie gibt dann Richtung in etwas, was ansonsten blind ist,
während Wünsche und Bedürfnisse den Ideen Anstoß und Kraft geben“ (1938, 69,
Übers. rg).
Wenn Erlebnispädagogik mehr sein will als Kompensation, muß
sie diesen Überlegungen Rechnung tragen. Entsprechend hat die Integration von
Momenten der Reflexion ein breites Echo in der Literatur gefunden. Die Gruppe
Project Adventure hat in diesem Zusammenhang das anschauliche Bild der
„adventure wave“ geprägt (Schoel et al. 1988, 27ff). Die Welle ist ein schönes
Symbol für die intendierte Fortbewegung und Entwicklung, bei der die Aktion
einem weithin sichtbaren Wellenberg gleicht, die Reflexion dem eher verborgenen
Wellental. In diesem Bild kommt ebenfalls gut zum Ausdruck, daß Aktion und
Reflexion idealerweise in einem beständigen Wechselspiel aufeinander bezogen
sind: Die Reflexion gibt Raum und Zeit, Ziele zu formulieren und Pläne zu
schmieden. In der Aktion können diese dann erprobt und verwirklicht werden.
Anläßlich einer darauffolgenden Reflexion besteht schließlich die Gelegenheit,
die Erfahrungen auszuwerten, Erkenntnisse festzuhalten und für kommende
Aktionen Anpassungen an den ursprünglichen Zielen und Plänen vorzunehmen.
Reflexionen haben
also eine doppelte Funktion: Rückblick im Sinne einer Integration der gemachten
Erfahrung und Vorausschau im Sinne einer Nutzung dieser Erfahrung für künftige
Lernsituationen.
Im Bild der „adventure wave“ steckt noch eine andere
Symbolik, die oft übersehen wird. Wellenberg und Wellental sind durch nichts
voneinander getrennt. Sie sind Teil ein und desselben Phänomens, der Welle.
Konsequent übersetzt heißt das, daß auch Aktion und Reflexion nicht
grundsätzlich voneinander getrennt werden können. Während man handelt, ist man
immer auch am denken, und auch Nachdenken ist eine Handlung. Eine vernünftige
Reflexion kann nicht erst im Wellental beginnen. Die Höhe des Wellenberges ist
keineswegs standardisiert, manche Wellen können viel früher abbrechen als erwartet.
Die Reflexion muß in ihrem Kern dann bereits angelegt sein. Nadler und Luckner
(1992, 59ff) bringen dieses Reflexionsverständnis mit der Formel „processing at
the edge“ auf den Punkt. Je dichter die Reflexion inhaltlich und zeitlich am
entscheidenden Moment des Erlebens dran ist, um so sinnvoller, energiegeladener
und vielversprechender wird sie sein.
Zugegebenermaßen ist es nicht ganz einfach, das alles in die
Praxis umzusetzen. LehrerInnen wie SchülerInnen tun sich denn auch oft schwer
mit Reflexionen. Die Integration und intelligente Nutzung von Erfahrungen ist
oft mühsamer als der Erfahrungsprozess selbst, und weniger gelungene
Reflexionen erwecken manchmal den Eindruck verordneter Rituale. Das klassische
Reflexionskonzept ist denn auch nicht unumstritten geblieben. Bacon (1983)
schlägt vor, den Akzent stärker auf eine bedeutungsgeladene Präsentation der
Aktivitäten zu verschieben, und Handley (1997) gibt zu bedenken, daß direkte
Fragen und Gespräche oft weniger geeignet sind, Veränderungsprozesse auszulösen,
als indirekte Interventionen.
Insgesamt dürfte die Frage aber eher lauten, wie Reflexionen
am besten zu gestalten sind, damit sie einen Beitrag dazu leisten können, die
Geschichten der Erlebnisse und Erfahrungen zu finden. Einige Anregungen dazu könnten
lauten:
·
Reflexionen
sind Angebote. Sie bieten in erster Linie ein Setting das allen ermöglicht,
nachzudenken und ihre Beobachtungen und Ideen zu äußern. Dabei sollte alles
vermieden werden, was Druck erzeugen könnte. In einem Kreisgespräch etwa müssen
alle die Möglichkeit haben, ohne viel Aufhebens das Wort weiterzugeben.
Insgesamt muß ein Rahmen hergestellt werden, in dem alle sich sicher fühlen
können, daß ihre Beiträge respektiert werden. Das kann etwa durch die
Vereinbarung einiger weniger Gesprächsregeln geschehen. Reflexionen sollten
immer in dem Bewußtsein durchgeführt werden, daß der richtige Zeitpunkt
nachzudenken oder sich zu äußern nicht für alle gleich sein kann.
·
Reflexionen
können vielfältige Formen annehmen. Das Kreisgespräch in der Gesamtgruppe
ist das ideale Forum, in dem das, was alle angeht, mit allen besprochen werden
kann. Andererseits kann es, gerade in größeren Gruppen, manchmal auch einen
schwerfälligen Charakter bekommen. Und es muß eben auch nicht immer alles vor
allen gesagt werden, manchmal ist es sinnvoller, den Schwerpunkt darauf zu
legen, daß die SchülerInnen Zeit zum Nachdenken und zum Austausch untereinander
erhalten. Als Alternativen bieten sich dann Kleingruppen-, Paar- oder
Soloreflexionen an. Reflexionen müssen auch nicht immer rein verbal sein.
Kreative Medien wie Malutensilien, Ton oder andere gestalterische Elemente
können Wege des Ausdrucks eröffnen, die über Sprache verschlossen blieben.
Schließlich bieten sich das individuelle Tagebuch oder auch das Gruppenlogbuch
als Reflexionsmedien an. Methoden können sich allerdings auch verselbständigen.
Die Wahl einer Reflexionsmethode sollte einer Entscheidung über die
Fragerichtung daher stets nachgeordnet sein.
·
Reflexionen
sollten einen festen Platz haben, sich aber auch spontan ergeben können. Dadurch, daß
feste Zeiten im Programmablauf für Reflexionsphasen eingeplant werden, wird ein
deutliches Zeichen gesetzt: Erlebnispädagogische Aktivitäten sind kein
Selbstzweck, die in ihnen gemachten Erfahrungen werden vielmehr als Lernanlässe
betrachtet, in einem Prozess, der auch über den Kurs, die Klasse oder die
Arbeitsgemeinschaft hinaus weist. Feste Zeiten sind im aktionsgeladenen Prozess
der Erlebnispädagogik auch eine Art Selbstverpflichtung für LehrerInnen und
SchülerInnen. Schließlich beinhaltet die Ritualisierung der Reflexion die
Chance, daß die SchülerInnen die Gruppengespräche zunehmend selbst in die Hand
nehmen können. Andererseits macht Reflexion nur Sinn, wenn es auch wirklich
etwas zu besprechen oder zu überlegen gibt. Und das ist oft ganz unerwartet der
Fall. Die Entscheidung, ob der Gruppenprozeß an einer wichtigen Stelle spontan
unterbrochen werden sollte, ist nie ganz einfach. Andererseits muß man sich von
der Vorstellung lösen, daß Reflexion immer an ein formalisiertes Ritual
gekoppelt sein muß. Eine Bemerkung oder Frage im richtigen Moment kann einen
spontanen Reflexionsprozeß auslösen, der intensiver ist als eine ausgiebige
Gesprächsrunde nach Abschluß der Aktivität.
·
Reflexionsimpulse
sollten so konkret wie möglich sein. Abstraktionen, die nicht auf dem
Hintergrund konkreter Beispiele lebendig werden, sind immer in der Gefahr, zu
leeren Worthülsen zu verkommen. Konkrete Fragen sind oft mühsamer zu
beantworten, sie geben andererseits auch eine gewisse Sicherheit, daß das
Gespräch auf dem Boden der Tatsachen bleibt und nicht in Bereiche vordringt,
über die man nicht gerne sprechen möchte. Borton´s Reflexionsmodell, das
entlang der drei Fragen „what“, „so what“ und „now what“ strukturiert ist
(Schoel et al. 1988, 170ff), vereint eine Betonung der Konkretheit mit einem
sinnvollen sequentiellen Aufbau von Fragen:
- Was ist passiert? Zunächst geht es
darum, aus der Vielfalt individueller Wahrnehmungen
und Beobachtungen
ein Bild der gemeinsam durchlebten Erfahrung zu rekonstruieren.
- Was hat das zu bedeuten? Ein und
dieselbe Handlung löst meist bei verschiedenen
Beteiligten ganz
unterschiedliche Gefühle und Interpretationen aus. Alle diese subjektiven
Realitäten haben
ihre Berechtigung. Indem sie geäußert werden, kann eine Annäherung
stattfinden bzw.
Differenzen können zumindest anerkannt werden.
- Was
machen wir damit? Schließlich gilt es, aus dem Gesagten Konsequenzen zu
ziehen:
was soll beim
nächsten Mal anders, genauso, mehr oder weniger gemacht werden?
·
Reflexionen
gewinnen eine positive Energie, wenn sie nach vorne gerichtet sind. Der
Blick zurück droht weniger im Zorn oder in Selbstvorwürfen stecken zu bleiben,
wenn man weiß, daß die nächste Chance vor der Tür steht. Hier liegt eine
besondere Stärke des erlebnispädagogischen Lernprozesses, die ja bereits im
Bild der „adventure wave“ zum Ausdruck kommt: die nächste Herausforderung kommt
bestimmt. Diesen Sinnzusammenhang, in dem Erkenntnisse immer einen unmittelbar
einsichtigen Nutzen haben, gilt es in der Moderation der Reflexion zu betonen.
·
Reflexionen
sollten einen Impuls geben, der genug Freiheit zur Entwicklung in andere
Richtungen läßt. Aus der Beobachtung des Gruppenprozesses gehen die
LehrerInnen mit Ideen, Hypothesen und Fragen hervor. Als Außenstehende nehmen
sie Dinge wahr, die den involvierten SchülerInnen entgangen sein könnten. Diese
Wahrnehmungen gilt es zu nutzen, und in Form von Fragen, die der Reflexion
einen Focus geben können, an die Gruppe zurückzuspiegeln. Beispielsweise kann
dadurch die Kommunikation in der Gruppe, die Frage, wie Entscheidungen gefällt
werden, oder der Umgang mit unterschiedlichen Einstellungen und Fähigkeiten ins
Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden (siehe z.B. Knapp 1992). Der Focus
darf andererseits nicht zu eng eingestellt werden, es muß immer noch Raum genug
vorhanden sein, daß sich das Gespräch in eine andere, von den SchülerInnen
favorisierte Richtung entwickelt. Vage und doch sehr schön beschreibt Levy den
Geist, der hinter den Fragen stehen sollte: „Eine Frage läßt den SchülerInnen
die Freiheit, Entdeckungen zu machen. Das ist der Kern der Sache“ (1996, 36,
Übers. rg).
Eine ernsthafte Arbeit mit Reflexionen kann sich nicht nur
auf die SchülerInnen beziehen. Sie setzt voraus, daß LehrerInnen sich selbst
auch als Lernende begreifen und ihre Art zu arbeiten immer wieder hinterfragen.
Regelmäßige Reflexionen innerhalb des Leitungsteams und Supervisionstreffen in
einem größeren Kontext sind daher wünschenswerte Bestandteile
erlebnispädagogischer Arbeit.
2.2. Die Sprache der
Bilder
„Menschliche Sprache hat Zugang nur zum Schatten des Sinns.“
Malidoma Somé
Watzlawick, Beavin und Jackson (1969, 61ff) haben darauf
hingewiesen, daß es zwei grundsätzlich verschiedene Formen der Kommunikation
gibt, die nebeneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen.
Digitale Kommunikation
bedient sich eines Systems von Zeichen, deren Bezüge zu den Objekten
willkürlich festgelegt werden. In der analogen
Kommunikation dagegen besteht eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen
Symbolen und den dadurch bezeichneten Objekten. Während die Stärke der
digitalen Kommunikation in ihrer Exaktheit und in einem prinzipiell
unerschöpflichen Vorrat an möglichen Zeichen liegt, hat analoge Kommunikation
etwas unmittelbar und universal Verständliches, das direkt unsere tiefsten
Instinkte und Gefühle anspricht. Und „überall,
wo die Beziehung zum zentralen Thema der Kommunikation wird, erweist sich die
digitale Kommunikation als fast bedeutungslos“ (Watzlawick et al. 1969,
64).
Vieles deutet darauf hin, daß diesen Formen der
Kommunikation auch zwei Arten zu denken entsprechen, die aus verschiedenen
Teilen unseres Gehirns gesteuert werden. Während wir komplexe logische
Zusammenhänge am besten anhand eines klar strukturierten Denkens in Zahlen,
Zeichen und Abstraktionen nachvollziehen können, haben wir über Bilder,
Analogien und Metaphern einen besseren Zugang zu unseren Gefühlen.
In der Erlebnispädagogik ist man schon immer davon
ausgegangen, daß wesentliche Erfahrungen transportiert werden können, obwohl
sie sich menschlicher Sprache weitgehend entziehen. Programmatisch wurde in
diesem Sinne der Ausdruck „the mountains speak for themselves“ geprägt. Seit
einigen Jahren werden darüber hinaus verstärkt Überlegungen angestellt, das
Bemühen um die rationale Aufarbeitung von Erfahrungen in Reflexionen durch eine
stärker die Intuition ansprechende Arbeit mit Metaphern zu ergänzen.
Stephen Bacon (1983) war der erste, der, mit Bezug zu Jungs
Archetypen, ein umfassendes Konzept zur bewußten Nutzung metaphorischer
Kommunikation im erlebnispädagogischen Lernprozess vorlegte. Eine zentrale
Rolle spielt dabei der Begriff der Isomorphie
oder Strukturähnlichkeit: Erlebnispädagogische Aktivitäten wie etwa Spiele,
Fahrradtouren oder die Organisation des Zusammenlebens in einem
Selbstversorgerhaus haben inhaltlich oft wenig mit Alltagssituationen der SchülerInnen
wie Hausaufgaben, Klassenarbeiten oder dem individuellen Freizeitverhalten zu
tun. Strukturell können jedoch
vielfältige Parallelen bestehen, z.B. in der Art, wie mit unangenehmen oder
schwierigen Situationen umgegangen wird. Aufgabe der Metapher ist es nach
Bacon, über die symbolische Hervorhebung der strukturellen Ähnlichkeiten eine
Brücke zwischen erlebnispädagogischem Kontext und Alltag zu schlagen. Der
Begriff Metapher wird dabei in einem über das literarische Konzept der
Redewendung hinausgehenden Sinn verstanden. Im Kern geht es um die Suche nach
Analogien, die intuitiv verstanden werden.
Michael Gass (1993) hat diese Ideen aufgegriffen und daraus
ein Modell entwickelt, das LeiterInnen die Konstruktion von geeigneten
Metaphern für verschiedene Gruppensituationen ermöglichen soll: Ausgehend von
einer expliziten Benennung und Gewichtung von Zielen wird eine strukturell
passende Aktivität ausgesucht. Von großer Bedeutung ist, daß hier
Problemlösungen möglich sind, die den TeilnehmerInnen im Alltagshandeln bislang
verschlossen waren. Um die strukturellen Parallelen zwischen dem Alltgsproblem
und der Übung zu stärken, werden bei letzterer dann eine Reihe von Änderungen -
Ergänzung, Sreichung oder Variation von Regeln, eine spezifische Präsentation, u.a.
- vorgenommen. Die anschließende Reflexion focussiert dann auf die Analogien
zwischen Übung und Alltag. Zahlreiche Beispiele für derart gezielt konstruierte
Metaphern präsentiert Gass in seinem „Book of Metaphors“ (1995).
Johan Hovelynck (1998) hinterfragt dieses Modell, indem er
darauf hinweist, daß konstruierte Metaphern der LeiterInnen den natürlichen
Prozeß der Entfaltung von individuellen Metaphern der TeilnehmerInnen
blockieren können. Auf dem Hintergrund des von Outward Bound Belgien entwickelten
und praktizierten Arbeitsmodells plädiert er dafür, den erlebnispädagogischen
Prozess als ein offenes Lernfeld zu sehen, in das die TeilnehmerInnen die ihnen
selbst wichtigen Erfahrungen mit Hilfe ihrer eigenen Bilder einbringen können.
Aufgabe des Leitungsteams ist es dann, diese Bilder aufzugreifen und den Prozeß
einer konstruktiven Weiterentwicklung bzw. Veränderung von Metaphern zu
begleiten.
Schließen sich die hier skizzierten Ansätze gegenseitig aus,
oder können sie sich ergänzen? Im Rahmen einer vergleichenden Darstellung
favorisiert Cornelia Schödlbauer (1997) ebenfalls ein offenes,
teilnehmerverantwortetes metaphorisches Modell. Sie gibt zu bedenken, daß
metaphorische Kommunikation auch einen ästhetischen Wert in sich hat, der
keiner weiteren Funktionalisierung bedarf, und daß es sich ohnehin meist als
unmöglich erweisen dürfte, die für die TeilnehmerInnen spontan auftauchenden
Bilder und Themen vorauszusehen. Gleichwohl macht sie Mut, Metaphern auch aktiv
zu gestalten, um den SchülerInnen damit einen aufmerksamen Umgang mit den
eigenen Bildern schmackhaft zu machen.
Einige abschließende Hinweise sollen ermutigen, sich weiter
mit diesem komplexen Thema zu beschäftigen:
·
Im Rahmen des metaphorischen Modells kommt der
Präsentation von Aktivitäten besondere Bedeutung zu. In dem englischen Begriff
„frontloading“ kommt die Tatsache, daß hier bereits folgenschwere
Vorentscheidungen getroffen werden, gut zum Ausdruck. Grundsätzlich bestehen
vier verschiedene Möglichkeiten der
Präsentation:
- Eine sachliche
und nüchterne Darstellung der Aufgabe ohne Erklärungen zum Kontext.
Das kommt der
Idee eines offenen Lernfeldes, welches die SchülerInnen im Sinne der für
sie relevanten
Themen nutzen können, am nächsten.
- Eine sachliche
und nüchterne Darstellung unter gleichzeitiger Nahelegung eines
Sinnzusammenhanges, etwa in Bezug auf bereits formulierte Ziele. Diese
Vorgehen
zeichnet sich
durch eine hohe Transparenz aus.
- Eine
metaphorische Präsentation, durch welche der Focus - unausgesprochen- auf ein
bestimmtes
Problem oder Lernfeld gerichtet wird. Die Chance dabei liegt in der gezielten
Bearbeitung eines
Themas auf einer potentiell sehr tiefgehenden Ebene.
- Eine
Präsentation, die sich analoger Kommunikation bedient, etwa in Form der
Einbindung in
eine Geschichte, wobei bewußt vielfältige Interpretations- und
Assoziationsmöglichkeiten gelassen werden. Hier wird die Phantasie und
Kreativität der
SchülerInnen in
besonderer Weise angesprochen.
Eine neutrale
oder wertfreie Präsentation kann es in diesem Sinne nicht geben - auch die
sachlich-offene
Variante geht mit einer Vorentscheidung einher, immer vorhandene
Planungsüberlegungen eben gerade nicht mitzuteilen.
·
Ein - auch dem Leitungsteam nicht immer bewußtes
- Signal, wieviel Raum der Bilder- und Symbolsprache in der Arbeit eingeräumt
werden soll, wird auch mit der Gestaltung
des äußeren Rahmens gesetzt. Ein kahler und spartanisch eingerichteter Raum
spricht eine andere Sprache als ein Raum, der z.B. mit Hilfe von Tüchern,
Bildern und kleineren Gegenständen dekoriert worden ist. Und eine Übung auf
einer romantischen Waldlichtung weckt andere Assoziationen als die gleiche
Übung auf einem betonierten Parkplatz. Aber auch das Ästhetische sollte nicht
unreflektiert zum Selbstzweck werden, denn es geht in der Regel nicht
ausschließlich um „schöne“ Lernerfahrungen.
·
Manche Arbeit auf der metaphorischen Ebene
findet statt, ohne daß man sich dessen bewußt ist, etwa wenn ein von einem
Schüler oder einer Schülerin benutztes sprachliches Bild aufgegriffen und
„weitergesponnen“ wird. Eine gezieltere Arbeit mit metaphorischen Elementen
kann auf eine Vielzahl von Medien
zurückgreifen. Im Zusammenhang der Reflexion wurden bereits Malutensilien, Ton
und andere gestalterische Medien genannt. Auf der sprachlichen Ebene können
Zitate, Märchen und fiktive oder reale Geschichten vorgetragen werden.
Phantasiereisen können einen thematischen Rahmen abstecken und gleichzeitig
viel Freiheit zur Entdeckung individueller Bilder geben. Elemente aus dem
Bereich des Theaters schließlich eröffnen schier unerschöpfliche Möglichkeiten
analoger Kommunikation.
In der Sprache der Bilder steckt zweifelsohne ein großes
Potential zur Begleitung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Es
verantwortungsvoll zu nutzen ist hingegen keine leichte Aufgabe. Während wir
alle beständig in Metaphern denken und kommunizieren, haben wir meist sehr
wenig Erfahrung im bewußten Umgang mit der Bilder- und Symbolsprache. Eine eingehendere
Beschäftigung mit den hier skizzierten methodischen Ansätzen ist daher
unabdingbar, wenn deren Nutzung in Betracht gezogen wird. Wichtiger aber noch
als methodische Kompetenzen dürfte bei der Arbeit mit Metaphern ein Vertrauen
in die eigene Intuition sein, auf dessen Hintergrund bedeutungsgeladene
Äußerungen und Situationen spontan aufgegriffen werden können. Intuition läßt
sich schulen. Dazu wiederum dürften sich Lernsituationen, in denen man selbst
betroffen ist, oft als die besten erweisen.
2.3. Werteentdeckung
„Wo die Visionen fehlen, verkommen die Menschen.“
Salomon
In Kurt Hahns Motto „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ klingt
noch eine andere Dimension an, ohne die ein Lernverständnis nicht wirklich
ganzheitlich wäre. In dem Begriff Herz steckt mehr, als wir normalerweise mit
der moderneren Formulierung „emotionales Lernen“ verbinden. Angesprochen ist
hier auch das Feld der Werte, des Sinns und der Spiritualität. Damit verbinden
sich schwierige und sehr sensible Fragen, weshalb es pragmatische Tendenzen
gibt, sie aus dem Unterricht weitgehend fernzuhalten. Doch Wertneutralität ist eine Illusion. Paolo Freire akzentuiert das
bewußt provokant: „Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein
Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner
Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung“ (1973, 13). Wie auch
immer man dazu stehen mag, tut man sicher gut daran, sich über die eigenen
grundlegenden pädagogischen Ziele klar zu werden. „Wenn unsere Entscheidungen
über das, was wir unterrichten nicht auf unseren innersten Überzeugungen
basieren, verselbstständigen sich die Materialien und Methoden, die wir
benutzen, und werden zum Selbstzweck“ (Levy 1996, 18, Übers. rg). Werte werden
auch dann unserem Handeln zugrunde liegen, aber wir treffen die Entscheidungen
nicht mehr selbst, jedenfalls nicht bewußt. „Zu häufig werden wir von unseren
unbewußten Annahmen eingeschränkt und von denen, die wir aus der Tradition der
Vergangenheit übernommen haben, gesteuert“ (ebd.).
Wenn wir uns über unsere zentralen Werte klar werden, diese
offenlegen und bereit sind, uns mit anderen darüber auseinanderzusetzen, dann
schaffen wir damit auch einen gewissen Schutz gegen die Manipulation und den
Mißbrauch von Konzepten. Davon war die Erlebnispädagogik und in einem weiteren
Kontext das ganzheitliche Menschen- und Weltbild ja schon in besonderer Weise
betroffen, worauf beispielsweise Roszak (1992, 167) hinweist. Die
Nationalsozialisten griffen das ganzheitliche Konzept auf und verzerrten es bis
zur Unkenntlichkeit, indem sie ihm ihr völkisch-rassistisches Denken
überstülpten. Erlebnispädagogische Ansätze benutzten sie dazu passend in der
Hitlerjugend.
An welchen Werten aber orientiert sich die
Erlebnispädagogik? Kimball und Bacon merken an, daß „Hahn´s Einsatz für
Erfahrungslernen und intellektuelle Freiheit ein ebenso engagierter Einsatz für
ein relativ traditionelles Set persönlicher Werte gegenüberstand“ (1993, 12,
Übers. rg). Ebenso wie Dewey (1916) sah Hahn eine wesentliche Aufgabe der
Schule in der Erziehung zu mündigen Staatsbürgern. Und ähnlich wie Kohlberg
(1982) betrachteten beide die Schule als ein praktisches Lernfeld im Sinne
eines Abbildes der Gesellschaft.
Das hat die Erlebnispädagogik bis heute geprägt. In
besonderer Weise geht es ihr um soziales Lernen, um das Bemühen, dem Nebeneinander und dem Gegeneinander,
welche den Alltag in den westlichen Gesellschaften prägen, ein lebendiges Miteinander entgegenzustellen. Ganz konkret hat das
seinen Niederschlag im sozialen Projekt gefunden, das unter dem Begriff
„service learning“ insbesondere in der amerikanischen „experiential education“
einen festen Platz hat. Aber auch in vielen anderen erlebnispädagogischen
Arbeitsprinzipien manifestiert sich diese grundlegende Zielsetzung:
·
Medien,
in denen das Prinzip gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortung symbolisch
und praktisch zum Ausdruck kommt, haben gegenüber rein individuellen
Aktivitäten den Vorzug. Zwei Beispiele dafür wären
- das Klettern, bei dem die Interaktion zwischen Kletternden und
Sichernden von zentraler
Bedeutung ist, gegenüber dem Bungeejumping, bei dem die Verantwortung für
die Sicherheit
des Sprungs ganz von Außenstehenden übernommen wird.
- das Kanufahren mit Kanadierbooten, in denen ein ständiges Bemühen um
Koordination die
Voraussetzung des Fortkommens ist, gegenüber dem Kayak, das von einer
Person ganz
alleine gesteuert wird.
·
Aufgaben,
die Kooperation nahelegen oder erfordern, werden gegenüber solchen
bevorzugt, in denen Konkurrenz und Wettbewerb im Vordergrund stehen. Die
kooperativen Abenteuerspiele, auch unter der Bezeichnung Initiativ- und
Problemlösespiele bekannt, sind der Prototyp dieser Spielform, die aus der
erlebnispädagogischen Arbeit hervorging und immer weiter entwickelt worden ist.
·
Konflikte
werden nicht als unangenehme und möglichst zu vermeidende Ereignisse angesehen,
sondern als Lernchancen, die
geradezu in den Vordergrund des erlebnispädagogischen Prozesses gerückt werden.
Einen weiteren bedeutungsvollen Wertehintergrund stellt das
Naturverständnis in der Erlebnispädagogik dar. Outdoor-Aktivitäten,
Expeditionen und Rettungsdienste waren von Anfang an und sind z.T. bis heute
zentrale Medien, über die Erlebnispädagogik sich entfaltet. Ein großer Teil des
Geschehens spielt sich in der Natur ab. Die Bewahrung von Naturräumen und -schönheiten hat von daher einen
hohen Stellenwert bekommen. Die Vorstellung von der Ursprünglichkeit,
Unberührtheit und Wildheit der Natur, die in dem englischen Ausdruck
„wilderness“ prägnant zum Ausdruck kommt, hat darüber hinaus einen fast
spirituellen Charakter. Miles (1993) legt sehr eindrucksvoll dar, welches
heilsame Potential in der Berührung mit ursprünglichen Naturlandschaften - wie
wir sie ja leider kaum noch haben - liegt.
Andererseits steht die Erlebnispädagogik in einem durchaus
ambivalenten Verhältnis zum Naturschutz, trägt sie doch durch eine gezielte
Nutzung von Naturlandschaften auch zu deren Bedrohung bei. Einige Impulse für
das praktische Handeln in diesem Spannungsfeld könnten sein:
·
Naturräume
dürfen nicht als reine Nutzräume mißbraucht werden. Die Felsen, an denen
geklettert wird, dürfen nicht zu Sportgeräten verkommen. Es gibt zahlreiche
Möglichkeiten, dieser Gefahr zu begegnen: die Einbettung von Aktivitäten mit
einem sportlichen Charakter in einen umfassenderen Kontext, das Aufsuchen von
ungewöhnlichen Orten zu ungewöhnlichen Zeiten wie Nacht, Dämmerung oder
Morgengrauen, und die Anregung von Assoziationen und Gedanken duch das Vorlesen
kurzer Texte sind einige davon. Am wichtigsten dürfte sich wohl das innere
Verhältnis der LehrerInnen selbst zur Natur, das in tausend kleinen Dingen zum
Ausdruck kommt, erweisen.
·
Naturschutz
kann sich nicht auf die Verhinderung oder Bekämpfung von Gefahren, etwa in
Form des strikten Verbleibens auf ausgezeichneten Wegen oder des Einsammelns
von Müll beschränken. Zu groß ist
die Wahrscheinlichkeit, daß die allein von einer solchen Erziehung Betroffenen
sich über kurz oder lang angesichts eines allgegenwärtigen Gefühls von Schuld
und Hoffnungslosigkeit (Roszak 1992, 35ff) ganz von dem Thema abwenden dürften.
Mindestens genauso wichtig ist es, Gelegenheiten zu schaffen, angesichts derer
die SchülerInnen sich selbst in der Natur intensiv erleben und gut fühlen
können. An solchen Gelegenheiten wiederum mangelt es in der Erlebnispädagogik
nicht.
·
Wo die ursprüngliche Natur nicht mehr vorhanden
ist oder nur noch durch weite Reisen zu erreichen wäre, gilt es, Schönheit und Ursprünglichkeit im Kleinen
zu entdecken bzw. wiederzuentdecken. Naturerfahrungsspiele, in denen die
Sinne auf vielfältige Weise angeregt werden, auf Entdeckungsreise zu gehen,
bieten sich als ein Medium dazu an.
Seit den Anfängen Kurt Hahns hat sich das Werteverständnis
der Erlebnispädagogik weiterentwickelt. Wenngleich das Einstehen für bestimmte
Werte weiterhin in der Praxis zum Ausdruck kommt, hat sich die Sichtweise von einer Werteerziehung zu einer
Werteentdeckung verschoben. „Für Lernende und Lehrende sollen Gelegenheiten
geschaffen werden, die eigenen Werte zu erfahren und zu überprüfen“ (Luckmann
1996, 7, Übers. rg). In dieser Formulierung, welche die Association for
Experiential Education (AEE) im Zusammenhang ihrer Leitprinzipien
veröffentlicht hat, spiegelt sich die Betonung eines erfahrungsorientierten und
selbstbestimmten Lernens wider.
Am eindringlichsten bringt vielleicht Heinz von Foersters
ethischer Imperativ das aktuelle Werteverständnis der Erlebnispädagogik zum
Ausdruck: „Handle stets so, daß die Anzahl der Wahlmöglichkeiten erhöht wird“
(v.Foerster, zit. nach Portele 1992, 212). Darin klingt eine gewisse Skepsis
vor „richtigen“ Werten und einfachen Lösungen an. Und deutlich wird auch, daß
kein noch so bewährtes Wertesystem den SchülerInnen die Verantwortung vor immer
wieder neuen Werteentscheidungen nehmen kann.
2.4. Leichtigkeit,
Humor, Kreativität
„If you take yourself too seriously, no one else will.“
Karl Rohnke
Herausforderung, Problemlösung, Reflexion, analoge
Kommunikation, Werteentdeckung...
Wer all diese „Dinge“ zu
ernst nimmt, läuft Gefahr von ihnen erdrückt zu werden. Hinter der oft
locker-flockigen Fassade der Erlebnispädagogik versteckt sich ein
anspruchsvoller Ansatz. Mit diesem Anspruch sollte idealerweise wiederum eine
gewisse Gelassenheit einhergehen, die es erlaubt, auch sich selbst gelegentlich
in Frage zu stellen.
Spaß, Ausgelassenheit und Humor sind Formen des Ausdrucks
einer solchen gelassenen Grundeinstellung. Sehr klar erkannt und konsequent in
ihre Praxis umgesetzt hat das die Gruppe Project Adventure (siehe z.B.
Rohnke&Butler 1995). Im Kontext der von ihm entwickelten,
weiterentwickelten bzw. gesammelten Spiele und in Anspielung auf das englische
Wort „fun“ ist Karl Rohnke sogar so weit gegangen, den Begriff „funn“ -
functional understanding not necessary - zu prägen (Rohnke 1996).
Wenngleich damit nicht gemeint ist, daß die LeiterInnen
nicht mehr wissen, was sie tun - in unserem Kulturkreis tun wir uns schwer, so
etwas als seriöse Pädagogik zu akzeptieren. Gedanklich wie praktisch tendieren
wir dazu, Spiel und Spaß vom Ernst des Lebens abzusondern. Spaß bekommt dadurch
einen Beigeschmack von Unterhaltung, Flachheit und Bedeutungslosigkeit. Schoel
et al. (1988, 21) machen darüber hinaus darauf aufmerksam, daß viele
Jugendliche Humor in ihrem Leben vorwiegend in seiner sarkastischen Form - als
Waffe, um andere abzuwerten - kennengelernt haben mögen. Humor kann aber auch
gerade das Gegenteil sein: eine Brücke zur Verständigung und Begegnung gerade
auch in Situationen, in denen die Kommunikation ansonsten schwierig ist.
Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen plädiert Nussbaum
(1993) dafür, im erlebnispädagogischen Prozeß Erfahrungen des miteinander Spaß habens zu fördern und
lebendige Beispiele dafür zu schaffen, daß Leichtigkeit
und Humor integrale Bestandteile ernsthaften Lernens sein können.
Kein Medium ist dafür wohl geeigneter als das Spiel. Es hat
eine besondere Qualität, die Levy (1978, 12ff) in der Formulierung „suspension
of reality“ zum Ausdruck bringt: die Alltagsrealität ist außer Kraft gesetzt,
alle Handlungen sind innerhalb des Spiels bedeutungsvoll und doch ohne
schwerwiegende Konsequenzen. Anders ausgedrückt: das Spiel ist eine weitgehend
geschlossene Gestalt, überschaubar in seinen Zusammenhängen, wenig belastet von
anderen Lebensereignissen und sinnvoll in sich selbst. Ein Experimentieren mit
neuen Verhaltensmöglichkeiten wird dadurch leichter. Man kann im Spiel etwas
ausprobieren, was man sich sonst nicht erlauben würde.
Spielen ist eine Gelegenheit loszulassen und Fassaden
abzulegen. Gerade das kann aber auch Ängste auslösen. Einige Anregungen können
vielleicht dazu beitragen, auch den SchülerInnen, die sich damit schwertun, ein
bißchen Leichtigkeit zu vermitteln:
·
Viele Spiele lassen ein Mitspielen der LehrerInnen problemlos zu. Das gilt insbesondere für
die vielen Aufwärmspiele, die immer wieder in den Programmablauf eingebaut
werden können. Diese Chancen sollten vom Leitungsteam genutzt werden, um aus
dem Spiel heraus einen leichten Ton zu setzen und die SchülerInnen durch die
eigene Begeisterung mitzureißen.
·
Die größte Angst beim Spielen ist wohl die, sich
lächerlich zu machen. Ihr kann man am besten mit einer Portion eigener Unbeschwertheit begegnen. Wo immer es paßt, sollte
man daher auch nicht davor zurückschrecken, sich selber einmal zum Clown zu
machen. Das ist wohl das überzeugenste Signal, welches man senden kann, um
deutlich zu machen, daß es völlig o.k. ist, nicht immer alles unter Kontrolle
zu haben.
·
Leichtigkeit, Humor und Kreativität sind nicht
auf das Spielen beschränkt. Gerade auch Phasen wie Reflexionen, mit denen man einen ernsten Grundton verbindet, können aufgelockert werden, ohne daß
dadurch Ernsthaftigkeit verloren gehen muß. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz
einer Sammlung von Schlümpfen, mit Hilfe derer die SchülerInnen bestimmte
Erfahrungen symbolisch zum Ausdruck bringen können.
Leichtigkeit hat einen Wert in sich. Ohne ihr Pendant, die
Schwere, droht sie zur Belanglosigkeit zu verkommen. Beide stehen in einem
Spannungsfeld, das sie miteinander verbindet. Milan Kundera bringt das
bedeutungsschwer zum Ausdruck: „Der Gegensatz
schwer - leicht ist der geheimnisvollste und ambivalenteste aller
Gegensätze“ (1984, 12, Übers. rg). Auch in der Erlebnispädagogik gilt es, diese
beiden Pole angemessen auszubalancieren. Man muß erkennen, wann einer Gruppe
eine Phase spielerischer Ausgelassenheit gut tun würde, und wann es besser ist,
sie mit einer schwierigen Aufgabe, einem Problem oder gar einer Krise sich
selbst zu überlassen. Eine Gebrauchsanweisung dafür kann es wieder einmal nicht
geben.
Am besten ist es, wenn es einem gelingt, einen Grundton der
Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit zu
finden, und diesen als roten Faden durch das gesamte Geschehen zu ziehen. Ein
solches Wesen ist im Humor bereits angelegt, wie die Lehrerin und
Kindertherapeutin Torey Hayden an sich selbst beobachtet hat: „Oft waren die
Dinge, über die ich gelacht habe, genau betrachtet eigentlich tragisch.
Vielleicht ist der größte Zauber des menschlichen Geistes die Fähigkeit zu
lachen: über uns selbst, über einander, über unsere manchmal hoffnungslose Situation“
(1980, 139, Übers. rg).
3. Selbstorganisation
„Die Geschichte der Erziehungswissenschaft ist durch den
Gegensatz zweier Ideen geprägt: Erziehung ist Entwicklung von innen heraus,
bzw. Formung von außen...“ (Dewey 1938, 17, Übers. rg). Dabei hat sich
offensichtlich letztere Idee weitgehend durchgesetzt: „Das traditionelle Schema ist in seinem Kern eines der Auferlegung von
oben und von außen“ (18). Das sind harte Worte, aber man muß sich vor Augen
halten, daß Dewey hier kein Urteil über die Unterrichtspraxis einzelner
LehrerInnen abgibt, sondern den Kern der Sache, die Grundstrukturen schulischer
Organisation anspricht.
Und Schule in ihrer heutigen Form ist ihrem Wesen nach
fremdbestimmt. Weder Kinder noch Jugendliche haben einen wesentlichen Einfluß
darauf, ob, wann und wohin sie zur Schule gehen. So wesentliche Fragen wie die,
was sie lernen, von wem sie unterrichtet werden und mit wem sie lernen, werden
nicht von, sondern für die SchülerInnen entschieden. Schule macht keine Lernangebote, sie setzt die Inhalte des
Lernens bis hin zu den Hausaufgaben fest. Und schließlich beurteilt sie die
Resultate dieses Lernens, statt den Lernenden zu helfen, ihre Fähigkeiten und
„Produkte“ selbst einzuschätzen.
Untrennbar damit verbunden, wenngleich weniger augenfällig
ist, daß es den LehrerInnen selbst nicht viel anders ergeht. Auch sie
durchlaufen einen Ausbildungsprozess, der durch Fremdkontrolle bestimmt ist,
werden Schulen zugewiesen, und haben detaillierte Auflagen, was sie zu
unterrichten, wie oft und auf welche Weise sie zu prüfen haben.
Natürlich lassen sich zu all den aufgezählten Fakten
Ausnahmen finden und Relativierungen vornehmen. Aber es ist nicht zu übersehen,
daß das Prinzip Fremdbestimmung weitreichende und tiefgreifende Spuren bei
allen Beteiligten hinterläßt: SchülerInnen wie LehrerInnen fühlen sich machtlos
gegenüber der Institution Schule, sie erleben sich als Rädchen im Getriebe,
nicht als ihr Lernen und Lehren selbst und gemeinsam Gestaltende.
Auch hier läßt sich ein größerer Zusammenhang erkennen: „In
allen evolutionären Prozessen gibt es ein Wechselspiel von unbeherrschbarem
Chaos und kontrollierbarer Ordnung, und seit Jahrtausenden versuchen die
Menschen, das Chaos zugunsten der Ordnung zu verbannen...“
(Fuhr&Gremmler-Fuhr 1995, 28). Roszak (1992) analysiert, daß dieses starke
Bedürfnis nach Kontrolle u.a. im Weltbild der Naturwissenschaften verankert
ist. In Abgrenzung zur Theologie galt bzw. gilt z.T bis heute ein grundlegendes
Axiom als unantastbar: die Annahme, daß alle Phänomene dieser Welt letztlich
auf Zufall beruhen. Wo aber ein inneres oder sinngebendes Steuerungssystem
fehlt, muß der Mensch versuchen, die Dinge zu kontrollieren so gut er kann. Ein
im existentialistischen Sinne hoffnungsloses Unterfangen obendrein angesichts
einer Gesetzmäßigkeit, die unter dem Begriff Entropie als zweiter Hauptsatz der
Thermodynamik bekannt wurde. Sie besagt, daß jedes geschlossene physikalische
System sich spontan in Richtung einer ständig zunehmenden Unordnung bewegt.
Auf dem Hintergrund von Forschungen im Bereich der Biologie
(Maturana&Varela1987), der Biochemie (Lovelock 1991, Margulis&Sagan
1995) und der Chemie (Prigogine&Stengers 1981), über die Capra(1996) einen
Überblick gibt, wurde dem Prinzip Zufall in den letzten Jahren ein grundlegend
anderes Weltverständnis entgegengesetzt: das Prinzip Selbstorganisation. Im
Kern geht es dabei um die Erkenntnis, daß lebende
Systeme von innen heraus bestimmt sind. Kräfte von außen können das System
beeinflussen - und sie tun das unentwegt, da lebende Systeme sich in einem
ständigen Austausch mit ihrer Umwelt befinden - aber die Richtung und die Art
und Weise, wie diese Einflüsse sich auswirken, können nicht vorausgesagt
werden. Sie werden durch die innere Struktur des Systems - seine Geschichte -
determiniert.
Eng verbunden mit der Selbstorganisationstheorie ist die
Position des Konstruktivismus, die in den Sozialwissenschaften eine zunehmend
bedeutsame Rolle spielt. Ausgehend von der Feststellung, daß alle Wahrnehmung
subjektiv ist, wird die Möglichkeit objektiver
Aussagen über die Welt grundsätzlich in Frage gestellt. Über das, was wir
im allgemeinen für unsere Entdeckungen über die Wirklichkeit halten, besteht
nur auf den ersten Blick Konsens. Genauer betrachtet unterscheiden sich die
jeweils individuellen Bilder, sind unterschiedliche Konstruktionen, letztlich
Erfindungen. „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“ (v.
Foerster 1981). Und: „Wir konstruieren eine,
nicht die Welt“ (Portele 1992, 33).
Mehr noch, unsere Konstruktionen sind immer auch sozial bestimmt: „Wirklichkeit
ist nichts Absolutes, sie ändert sich mit der Gruppe, zu der das Individuum
gehört“ (Lewin, zit. nach Portele 1992, 33).
Selbstorganisationstheorie und Konstruktivismus sind im
wahrsten Sinne des Wortes radikale Konzepte, sie gehen an die Wurzel unseres
Denkens. Nicht weniger wichtig dürfte die „Tatsache“ sein, daß sie auch an die
Wurzel unserer Gefühle gehen, denn die Aufgabe des Strebens nach Steuerung und
Kontrolle, den sie den PädagogInnen nahelegen, muß letztlich getragen werden
von einem grundlegenden Vertrauen in die inneren Selbststeuerungskräfte des
Menschen. Dabei geht es nicht um den Verzicht auf Erziehung. Das wäre sogar
eine andere gefährliche Illusion. Auch Interventionen, die soweit wie möglich
vom Indiviuum bzw. der Gruppe und ihrer Geschichte ausgehen und die sich als
Anregungen sehen, haben Macht und Richtung. Und dafür müssen PädagogInnen
weiterhin Verantwortung übernehmen. Kontrolle, im Sinne einer Selbstkontrolle
der eigenen Interventionen ist in diesem Sinne ein wichtiger Bestandteil
verantwortlichen Erziehung.
Trotz der langen Vorherrschaft des mechanistischen
Kontrollparadigmas, das mit seinen Vorstellungen von der Notwendigkeit starrer
Ordnungen, Regeln und Hierarchien das schulische Selbstverständnis nachhaltig
geprägt hat, gab und gibt es immer wieder Ansätze in Richtung
Selbstorganisation in der Reformpädagogik. Drei Aspekte, die auch in der
aktuellen Diskussion um die Weiterentwicklung von Schule eine mehr oder weniger
zentrale Rolle spielen, sollen kurz hervorgehoben werden.
Das Prinzip des
offenen Unterrichts: Wenn Menschen von innen heraus bestimmen, was für sie
wichtig ist und wie sie Lernangebote letztendlich nutzen, dann ist es geradezu
widersinnig und mit ungeheuren Verlusten an Energie verbunden, allen das
Gleiche vorzusetzen und in einem einheitlichen Tempo vorzugehen.
Das Prinzip der
demokratischen Schulgemeinschaft: Wenn die Fähigkeit zur Selbstorganisation
auch auf den sozialen Bereich, auf Gruppen und Institutionen also, übertragen
werden kann - und das ist ja eine der Grundannahmen des demokratischen
Gesellschaftsverständnisses - dann ist es eine gefährliche Unterlassungssünde,
dafür in der Schule keine relevanten Übungsfelder bereitzustellen.
Das Prinzip der
Autonomie von Schule: Wenn es - analog zur Vielfalt individueller Lernwege
- eine Vielfalt von sinnvollen Lernangeboten geben kann, dann bedeutet eine
Verhinderung dieser Vielfalt auch eine Einschränkung der individuellen Lern-
und
Entwicklungsmöglichkeiten.
Die zentrale Aufgabe
der Pädagogik aus der Sicht der Selbstorganisationstheorie ist die
Unterstützung der Fähigkeit zu selbstbestimmtem und selbstverantwortlichem
Lernen. Was kann die Erlebnispädagogik dazu beitragen? Sie bietet vor allem
einen exemplarischen Rahmen, innerhalb dessen Selbstorganisation von der
Zielsetzung, über den Lernprozess selbst bis hin zur Bewertung praktiziert und
reflektiert werden kann.
3.1. Selbstgesteckte
Ziele
„Auf den Gipfeln der Berge wirst Du soviel Glück finden, wie
Du mitbringst.“
Zen-Spruch
Selbstorganisation von Gruppen beginnt damit, daß die an
einem Handlungsprozess Beteiligten sich klar darüber werden, was sie erreichen
wollen. Das klingt relativ banal und ist doch in sich bereits ein oft mühsamer
und zugleich lohnenswerter Prozess.
Angesichts der vielen inhaltlichen und organisatorischen
Vorgaben, die Schule normalerweise macht, mangelt es SchülerInnen wie
LehrerInnen an konkreten Erfahrungen im Aushandeln von Zielen. Auch in der
Erlebnispädagogik ist die Versuchung groß, über den Prozess der Zielfindung und
Zielsetzung relativ schnell hinweg zu gehen. Für die LehrerInnen liegen die
Lernziele im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung ja geradezu auf der Hand:
Stärkung des Selbstwertgefühls und Förderung sozialer Kompetenzen sind
schließlich integrale Bestandteile des Programms, mit dem die Erlebnispädagogik
antritt.
Für die Jugendlichen sieht die Situation jedoch etwas anders
aus. Sie haben sich anhand ihrer Erfahrungen im Laufe der Jahre ein Bild von
Schule gemacht, in das ein Angebot zur Persönlichkeitsentwicklung nicht mehr
recht zu passen scheint. Es liegt daher nahe, daß sie Erlebnispädagogik
zunächst einmal als das wahrnehmen, als was sie sich rein äußerlich darstellt:
ziemlich ungewöhnliche Aktivitäten, die eine Unterbrechung der schulischen
Routine versprechen. Die Idee, daß die Beschäftigung mit diesen Aktivitäten über den unmittelbaren Spaß
hinaus im Sinne exemplarischer Lernerfahrungen etwas zu bieten hat, ist
keineswegs einfach zu vermitteln. Und SchülerInnen können durchaus berechtigte
und ernst zu nehmende Bedenken gegen diese neuen pädagogischen Intentionen zu
erkennen geben, denn schließlich soll es dabei um ihre persönlichen Gewohnheiten, Gefühle und Werte gehen.
Arbeit an sich selbst
im Sinne selbstgesteckter Ziele kann immer nur ein Angebot sein. Ein
Angebot allerdings, das zu machen es gute Gründe gibt. Lewin (1944, zit. nach
Schoel et al. 1988, 16) legt dar, daß Menschen sich dann erfolgreich fühlen,
wenn
- sie in der Lage sind, für sich selbst Ziele festzulegen,
- ihre Ziele einen Bezug zu ihren zentralen Bedürfnissen und
Werten haben,
- sie in der Lage sind, Wege zu beschreiben, die zum
Erreichen der Ziele führen,
- ihre Ziele auf einem realistischen Level liegen, weder zu
hoch noch zu niedrig, aber hoch
genug, um eine Herausforderung darzustellen.
Persönliche Zielsetzung ist so gesehen eine Kunst und ein
nicht zu unterschätzender Faktor, der zu einer befriedigenden Lebensgestaltung
beitragen kann. Wer sich selbst bedeutungsvolle und realistische Ziele stecken
kann, dessen Wünsche werden weniger leicht von den Interessen anderer gesteuert
und mißbraucht werden können.
Einige praktische Aspekte der Arbeit an und mit Ziuelen
sind:
·
Die Idee der Arbeit an eigenen Zielen sollte
gleich zu Beginn des gemeinsamen Prozesses eingeführt werden, im Bewußtsein,
daß viele Jugendliche sie sich erst mit der Zeit zu eigen machen werden. Ziele können sich nach und nach entfalten.
Relativ schnell stoßen die SchülerInnen darauf, daß es unumgänglich ist, sich
mit dem Gruppenprozess auseinanderzusetzen, wenn sie ihn nicht einfach nur
erdulden wollen. Gruppenbezogene Ziele werden daher in der Regel als erste
formuliert werden, und sie haben den Vorteil, daß sie sich auf die unmittelbare
Realität des Gruppengeschehens beziehen und an dieser immer wieder überprüft
werden können. Individuelle Ziele verlangen ein höheres Maß an gedanklicher
Auseinandersetzung der Jugendlichen. Allem vorweg setzen sie einen
authentischen Wunsch nach Entwicklung oder Veränderung voraus, und werden daher
erfahrungsgemäß in unterschiedlich starkem Ausmaß von den SchülerInnen
formuliert werden.
·
Ziele
sind nichts Statisches. Sie können und werden sich im Verlauf der
gemeinsamen Arbeit verändern. Anfängliche Zielformulierungen stellen so gesehen
seine Ausgangsbasis dar, auf die man immer wieder mit der Einstellung
zurückkommen sollte, sie auf ihre Bedeutung für die aktuelle Situation zu
hinterfragen und gegebenenfalls umzuformulieren. Nichts wäre in diesem Sinne
kontraproduktiver, als das Erreichen von Zielen abzuhaken, oder gar
SchülerInnen auf einmal formulierte Ziele festlegen zu wollen.
·
Wo die Formulierung eigener Ziele nur zögerlich
in Bewegung kommt, ist es möglich, Anstöße
unterschiedlicher Art zu geben. So
kann man z.B. Symbole dafür, wo die Gruppe hin will, wo sie nicht hin will und
auch für die Gruppe selbst vorschlagen oder erarbeiten lassen. Man kann die
SchülerInnen bitten, ein oder zwei individuelle Ziele auf Zettel zu schreiben
und gelegentlich einen Blick darauf zu werfen. Schließlich ist es sogar
möglich, das Nachdenken über Ziele durch exemplarische Listen möglicher Ziele
anzuregen. Je mehr Vorgaben man allerdings macht, um so größer ist auch die
Gefahr, daß SchülerInnen Impulse aufgreifen, ohne wirklich dahinter zu stehen.
·
Gelegentlich macht es Sinn, von den SchülerInnen
formulierte Ziele zu hinterfragen. Das ist insbesondere dann
der Fall,wenn
- die Ziele unrealistisch sind. Ziele, die auf einem zu hohen Level
angesiedelt sind, beinhalten die Gefahr wiederholter Mißerfolgserlebnisse. Es
kann daher eine große Hilfe für den Schüler oder die Schülerin sein, das Ziel
auf ein erreichbares Maß herunterzuholen.
- die Ziele zu abstrakt sind. Die Gefahr ist hier, daß es der oder dem
Jugendlichen nicht gelingt, eine Beziehung zwischen dem Ziel und dem Kursgeschehen
herzustellen. Eine angemessene Hilfe besteht darin, daß Ziel so konkret wie
möglich zu formulieren.
- die Ziele unglaubwürdig sind. Natürlich wittern manche SchülerInnen
beim Thema Ziele den pädagogischen Zeigefinger. In einem solchen Fall ist es am
besten, sie damit zu konfrontieren, daß erst mal gar kein Ziel zu haben besser
ist, als ein scheinbares Ziel vor sich her zu schieben.
·
Wenn man Ziele
formulieren läßt, muß man sie auch ernst
nehmen. Hinter den Zielen können nämlich lebensgeschichtliche Erfahrungen
stehen, die weit über das aktuelle Geschehen hinaus reichen, und die für die
Betroffenen eine hohe Sensibilität zur Folge haben. Das bedeutet u.a., daß das
Programm sich an den Zielen orientieren muß, d.h. man muß Aktivitäten anbieten,
anläßlich derer die genannten Ziele sich auch realisieren lassen. Aus der
Perspektive individueller Zielsetzungen verändert sich auch das Verständnis der
Herausforderungen. Im Vordergrund steht nicht mehr die erfolgreiche Bewältigung
einer Aktivität, sondern das Herangehen an diese Aktivität in einer den Zielen
des Individuums angemessenen Weise. Angesichts der persönlichen Zielsetzung
„mich nicht ständig zu überfordern“ kann die Herausforderung bei einer
schwierigen Aufgabe z.B. gerade darin liegen, rechtzeitig „nein“ zu sagen. Für
die LehrerInnen wird die Arbeit damit natürlich wesentlich komplexer. Eine
Fixierung auf die erfolgreiche Bewältigung von Aufgaben geht u.U. am Kern der
Sache vorbei.
Das Prinzip der Arbeit an Zielen, welche die SchülerInnen
sich selbst stecken, negiert nicht die Bedeutung von Zielen, welche die
LehrerInnen ihrerseits haben. Diese „Metaziele“ bestimmen ja in ganz
entscheidender Weise den Charakter des erlebnispädagogischen Angebots. Die
Ziele der SchülerInnen sind aber quasi der Treibstoff, ohne den dieses Angebot
nicht recht in Schwung kommen kann. Oder in der Sprache der
Selbstorganisationstheorie: mit selbstgesteckten Zielen knüpft man an die
innere Struktur des Systems an, welche letztlich die Auswirkungen äußerer
Einflüsse bestimmt.
3.2.
Selbstgesteuerter Prozess
„Entwirf Deinen Reiseplan im großen,
und laß Dich im einzelnen von der bunten Stunde treiben.“
Kurt Tucholsky
Exakte Steuerbarkeit und Voraussage der Ergebnisse sind
Illusionen, die bereits im naturwissenschaftlichen Bereich an ihre Grenzen
stoßen. Und doch geht das klassische Verständnis von Unterrichtsplanung davon
aus, über eine dosierte Steuerung von Lernimpulsen bei allen SchülerInnen einen vergleichbaren Lernprozeß zu
erreichen.
Konsequent für das pädagogische Feld weiter gedacht
impliziert der Grundgedanke der Selbstorganisation aber vielmehr einen Ansatz,
in dem durchdachte Impulse viele
unterschiedliche Lernprozessse auslösen, die zwar miteinander in Beziehung
stehen, sich jedoch immer wieder auch in ganz eigene Richtungen bewegen.
Damit diese Lernprozesse Sinn machen, ist es unverzichtbar,
daß die SchülerInnen weitgehend selbständig Entscheidungen treffen können.
Wolfgang Hinte (1990) fordert in diesem Sinne eine „non-direktive Pädagogik“.
„Non-direktiv meint... das konstante Bemühen, dem Lernpartner die Verantwortung
und die (möglichst) volle Entscheidungsfreiheit zu belassen, wie, wo, mit wem,
was und wodurch er lernen will“ (ebd., 91).
Das ist eine radikale Vision selbstorganisierten Lernens.
Aber auch Hinte räumt ein, daß auf dem Weg zu dieser Vision erst viele kleine
Schritte gemacht werden müssen. „Selbstbestimmtes Handeln kann nur nach und
nach gelernt werden, es ist nicht einfach da oder stellt sich automatisch ein.
Wer ständig fremdbestimmt gelebt hat, ist nicht ohne weiteres in der Lage,
selbstbestimmt zu handeln. Oder noch bedenklicher: er hält Selbstbestimmung
häufig gar nicht mehr für erstrebenswert. Deshalb müssen zunächst in kleinen
Freiräumen vorsichtige Erfahrungen mit Selbstbestimmung gemacht werden, die
vielleicht dazu ermutigen, sich weitere Freiräume zu schaffen“ (ebd., 113-114).
Genau das ist der Ansatz der Erlebnispädagogik. Sie steht
quasi konzeptionell in einem Spannungsfeld
von Direktivität und Non-Direktivität, wenn ganz gezielt Freiräume geplant,
vorbereitet und angeboten werden, in denen Jugendliche dann eine weitgehende
Autonomie und Entscheidungsfreiheit haben. Das ist das, was Fürst als die
„Dynamik der unfertigen Situation“ bezeichnet und Hovelynck als „offenes
Lernfeld“.
Eine solche Arbeit beinhaltet im Vorfeld eine sehr
sorgfältige, an den Bedürfnissen und Zielen der SchülerInnen orientierte
Planung. Während der Aktivitäten dagegen ist eine konsequente
Prozessorientierung erforderlich. Das bedeutet, daß den SchülerInnen die volle
Verantwortung für das, was sie aus einer Aufgabe oder Aktivität machen,
zugemutet wird, und daß sie bei ihren Lösungsversuchen, aber auch auf ihren
Umwegen oder in ihren Sackgassen nicht von den LehrerInnen gestört werden.
Sinnvoll und zulässig sind in diesem Sinne nur Interventionen, die dazu dienen,
das Bewußtsein für das, was in diesem Prozess gerade abläuft zu schärfen.
Soviel Zurückhaltung und Konzentration auf den Prozess stellt natürlich gerade für LehrerInnen, die es
normalerweise als ihre Aufgabe betrachten Inhalte
zu vermitteln, eine große Herausforderung dar.
Prozessorientierung impliziert dabei keineswegs eine
Geringschätzung der Inhalte. Vielmehr ist es ja so, daß in der
Erlebnispädagogik gerade über spannende Inhalte die Chance eines intensiven
Lernprozesses zwischen LehrerInnen und SchülerInnen angebahnt wird. Es ist die
gemeinsame Sache (Portele 1992, 137ff), welche die Auseinandersetzung mit
persönlichen und sozialen Themen in Gang bringt. Gerade weil ihnen die Radtour,
die Kanuwanderung oder die spannende Problemlöseaufgabe etwas bedeutet,
entwickeln die Jugendlichen vielleicht nach und nach die Bereitschaft, darüber
nachzudenken, was und wie sie dazu beitragen, daß das gemeinsame Projekt
gelingt oder mißlingt. Und eben diese Verantwortung für das Gelingen oder
Mißlingen nehmen ihnen die LehrerInnen - im Gegenssatz zum meist viel stärker
gelenkten Schulalltag - nicht ab, sie belassen sie im Gegenteil bewußt und
betont bei den SchülerInnen.
Es geht also in letzter Konsequenz nicht darum, den Jugendlichen
etwas Tolles zu bieten oder etwas Schönes mit ihnen zu machen. Prägnant, doch
schwer übersetzbar, bringt Randolph DeLay das auf den Punkt: „Experiential
education is not a series of activities done
to a learner“ (1996, 80).
Keine andere Präsentation ist wahrscheinlich so gut
geeignet, den SchülerInnen den Grundgedanken der Selbstverantwortung zu
vermitteln wie das von Project Adventure formulierte Konzept „challenge by choice“ (Schoel et al.
1988, 130ff). Sinngemäß, wenngleich wenig elegant, ließe sich das als Konzept
der selbstgewählten Herausforderung übersetzen. Mit „challenge by choice“ wird
einerseits die Freiwilligkeit der Teilnahme und der durchgängige
Angebotscharakter der Erlebnispädagogik hervorgehoben. Zum Ausdruck kommt
darüber hinaus, daß Beteiligung keine Frage des „entweder oder“ ist, daß es
vielmehr immer verschiedene Formen und Abstufungen im Grad des sich auf eine
Herausforderung Einlassens gibt. „Challenge by choice“ beinhaltet also sowohl
das Recht des „nein“-Sagens, als auch die Möglichkeit, im Rahmen einer jeden
Situation ein eigenes „ja“ zu entwickeln.
Und schließlich schwingt in der Formulierung die essentielle
Botschaft mit, daß Lernende nicht als Empfänger eines Programms, sondern als
Gestaltende eines Prozesses, der sich von außen weder vorhersagen noch
kontrollieren läßt, gesehen werden. „Challenge by choice“ eignet sich von
daher, die Arbeit wie eine Art Leitmotiv zu begleiten.
Da das Prinzip der Selbstverantwortung für den Lernprozess
das gesamte Konzept durchzieht, sind viele praktische Konsequenzen bereits
genannt worden und sollen hier nur noch einmal kurz angedeutet werden:
·
Das Programm
muß flexibel genug sein, um
Anpassungen, Umstellungen oder gar völlige Veränderungen, die sich aus der
Logik des Prozesses ergeben, zuzulassen.
·
Der zeitliche
Rahmen muß so offen sein, daß
ein selbstgesteuerter Prozeß sich auch wirklich
entfalten kann und nicht ständig abgebrochen oder durch neue Aktivitäten
überlagert wird.
·
Spontane
Entwicklungen müssen wahrgenommen
und aufgegriffen werden. In ihnen bahnen sich häufig wertvolle
Lernerfahrungen an, die im Vorfeld gar nicht planbar sind.
·
Last not least: der äußere Rahmen sollte das
innere Konzept widerspiegeln. Selbstversorgung z.B ist in diesem Sinne weit
mehr als ein ökonomisches oder rein praktisches Konzept.
3.3. Selbstbewertung
„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der
Unzufriedenheit“
Sören Kierkegaard
Es liegt nahe, einen Lernprozess, dessen Ziele die
Jugendlichen selbst abstecken und dessen Verlauf sie zunehmend selbst
organisieren, auch von den Jugendlichen selbst bewerten zu lassen. Wenn am Ende
hingegen die Erwachsenen wieder einmal das letzte Wort haben, drängt sich der
Eindruck auf, daß es mit der Selbstorganisation doch gar nicht so ernst gemeint
war. Doch das Prinzip der Fremdbewertung ist tief in der Schule verankert. So
tief, daß die SchülerInnen, nachdem sie sich über so lange Zeit an die
omnipräsente Herrschaft der Noten gewöhnt haben, Bewertungen und Vergleiche
schließlich selbst einfordern.
Dahinter verbirgt sich ein schwerwiegendes Defizit: die
SchülerInnen haben nicht gelernt, sich selbst realistisch einzuschätzen. In der
Folge sind viele von ihnen bzgl. ihrer eigenen Leistungen, ihrer Fähigkeiten
und ihres Auftretens äußerst unsicher. Sie bleiben abhängig vom Urteil fremder
Autoritäten.
Um zu einer
selbstständigen und realistischen Urteilsfähigkeit zu kommen, bedarf es eines
Lernprozesses, in dem das eigene Urteil immer wieder gefragt ist und zugleich
auch hinterfragt wird. Die Arbeiten von Kohlberg (s. Oser&Althof 1992)
und Gilligan (1984) weisen darauf hin, daß das in besonderem Maße auch für die
Bildung des moralischen Urteilsvermögens gilt. Dieses entwickelt sich in einem
langfristigen Prozess, ausgehend von einem unreflektierten Gehorsam des
Kleinkindes gegenüber Autoritäten hin zum autonomen Urteil des reifen
Erwachsenen, das sich an allgemeingültigen ethischen Prinzipien orientiert.
Doch diese Entwicklung verläuft nicht automatisch. Wenn fremde Beurteilungen
und Entscheidungen das eigene Denken überflüssig machen, wird es in unreiferen
und manipulierbareren Stadien steckenbleiben.
Die Aufgabe der Pädagogik muß es folglich sein, einen
geeigneten Rahmen zur Schulung der Urteilsfähigkeit bereitzustellen. Dieser
Rahmen muß überschaubar sein, eigene Ziele und Leistungsansprüche müssen
realisiert, ihr Erreichen unmittelbar selbst überprüft und bewertet werden
können. Unrealistische Selbsteinschätzungen wie die Tendenz, sich viel zu
anspruchsvolle Ziele zu stecken oder umgekehrt, die eigenen Fähigkeiten zu
verkennen, können dabei erkannt und schrittweise korrigiert werden.
Moralisch relevante Entscheidungen müssen von der Gruppe
selbst ausgehandelt, ihre Folgen von allen spürbar erlebt werden können.
Fragwürdige Annahmen und Urteile werden dann offensichtlich und können durch
verantwortlichere Entscheidungen ersetzt werden.
Im Gegensatz zu den meisten Alltagssituationen, in denen das
eigene Verhalten oft nur ein winziger Faktor in einem komplexen
Bedingungsgeflecht ist, und in denen die Konsequenzen dieses Verhaltens sich
der eigenen Wahrnehmung entziehen, bietet das erlebnispädagogische Szenario ein
hohes Maß an Überschaubarkeit und direkter Rückkopplung. Ein Abenteuerspiel
etwa ist eine relativ geschlossene Gestalt in sich: die Aufgabenstellung ist
klar, die Gruppe überschaubar, Einflüsse von außen auf ein Minimum beschränkt,
und der Zeitraum zwischen Zielsetzung und Auswertung kurz.
Jeder Eingriff von außen läuft grundsätzlich Gefahr, die
selbstorganisierten Lernprozesse in diesem Szenario zu stören und zu
überlagern. Das impliziert allerdings nicht, daß LehrerInnen sich mit ihren
eigenen Beobachtungen und Einschätzungen völlig heraushalten sollten. Ihre
Rückmeldung bekommt allerdings in diesem Verständnis einen anderen Stellenwert
und einen anderen Charakter. Statt einer von allen zu akzeptierenden Bewertung
versteht sie sich als Angebot, das dazu beitragen will, allzu schnelle oder
pauschale Beurteilungen der SchülerInnen zu hinterfragen, blinde Flecken zu
beleuchten und neue und ungewohnte Perspektiven in Erwägung zu ziehen.
Die Fähigkeit zu einer angemessenen Selbstbewertung kann
nicht einfach vorausgesetzt werden. LehrerInnen und SchülerInnen nähern sich
vielmehr diesem Ziel in einem gemeinsamen Prozeß, in dem alle Rückmeldungen der
LehrerInnen darauf ausgerichtet sind, die Urteilsfähigkeit der SchülerInnen zu
stärken.
Einige Anregungen zu diesem veränderten Verständnis von
Bewertung wären:
·
Rückmeldungen
sollten sparsam und in Anlehnung an die
Feed-back-Regeln der Themenzentrierten Interaktion (Cohn 1975, 120ff)
gegeben werden. Vier Kriterien können als Orientierungshilfe dienen:
- Subjektivität: Rückmeldungen beruhen
grundsätzlich auf subjektiven Wahrnehmungen und
sollten sich daher
immer auch als persönliche Aussagen zu erkennen geben.
- Situationsbezogenheit: Rückmeldungen
gehen immer auf Beobachtungen in konkreten
Situationen zurück
und dieser Situationsbezug sollte für die Empfänger auch erkenntlich
sein.
- Brauchbarkeit: Rückmeldungen sind nur
dann nützlich, wenn aus ihnen konstruktive
Veränderungen
ableitbar sind. Auch in einer kritischen Rückmeldung sollte daher immer ein
konstruktiver und
nach vorne gerichteter Impuls zum Ausdruck kommen.
- Erwünschtheit: Rückmeldungen sind nur
dann sinnvoll, wenn sie auch aufgenommen
werden können. Vor
jeder Äußerung sollte man sich also über die Offenheit des Empfängers
oder der
Empfängerin rückversichern.
·
Bewertungen orientieren sich oft an
feststehenden Normen oder Arbeiten mit Vergleichen gegenüber Anderen. So werden
etwa sportliche Leistungen in der Leichtathletik anhand eines für alle gleichen
Punktesystems bewertet, und Noten in Klassenarbeiten orientieren sich bis zu
einem gewissen Grade an der durchschnittlichen Leistung der Lerngruppe. Beide Maßstäbe
nehmen für sich in Anspruch gerecht zu sein. Den oft sehr unterschiedlichen
Ausgangsbedingungen der SchülerInnen werden sie allerdings nicht gerecht. Rückmeldungen sollten sich daher
stärker am Lernprozess und
Lernfortschritt des jeweiligen Individuums bzw. der jeweiligen Gruppe
orientieren. Rohnke (1989) gibt interessante Anregungen, wie der
Bezugspunkt des Vergleichens in spielerischen Aktivitäten von äußeren Maßstäben
auf die Gruppe selbst verlagert werden kann.
·
„The mountains speak for themselves“ lautet
einer der bekanntesten erlebnispädagogischen Slogans. „...wenn man Ihnen nicht
voreilig ins Wort fällt“ wäre vielleicht hinzuzufügen. Ein Setting, welches so
gestaltet ist, daß die Handlungen der
Beteiligten für alle nachvollziehbare und zugleich begrenzte Konsequenzen
haben, reduziert die Notwendigkeit eines beurteilenden Eingreifens der
LehrerInnen erheblich. Oft werden die SchülerInnen dabei allerdings zu anderen
Einschätzungen und Bewertungen kommen als die LehrerInnen. Das gilt es
auszuhalten im Bewußtsein, daß der Weg zu einem reifen Urteilsvermögen eher
einem Bergpfad mit vielen Windungen, steilen Aufstiegen und plötzlichen
Abbrüchen gleicht, als einer Schnellstraße durch eine übersichtliche
Landschaft.
3.4. Glasnost
„Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung, die der
Reisende nicht ahnt.“
Martin Buber
Selbstorganisation kann in der Pädagogik wohl nie ein
absolutes Prinzip sein, denn wäre sie es, hätte sich die Rolle der Pädagogen
eigentlich erledigt. Die Erlebnispädagogik bietet, genau betrachtet, Spielräume
für selbstverantwortliches Handeln innerhalb eines im Vorfeld wohldurchdachten
und sorgfältig geplanten Rahmens. Das kommt in einer Formulierung der
AEE-Arbeitsprinzipien klar zum Ausdruck: „Erfahrungen werden so strukturiert,
daß die Lernenden Initiative ergreifen, Entscheidungen treffen und
Verantwortung für die Resultate übernehmen müssen“ (Luckmann 1996, 7, Übers. u.
Hervorh. rg).
Vielfältige Verantwortungen und Entscheidungen liegen also
bei den LehrerInnen: „Die wesentlichen Aufgaben der Pädagogen liegen also in
der Auswahl passender Erfahrungen, im Stellen von Problemen, im Setzen von
Grenzen, in der Unterstützung der Lernenden, in der Gewährleistung der
körperlichen und seelischen Sicherheit und in der Moderation des Lernprozesses“
(ebd., 7). Jede dieser Tätigkeiten beeinträchtigt auf ihre Art und Weise die
Autonomie der SchülerInnen. Das macht Sinn, denn es entlastet sie auch und
ermöglicht ihnen die Konzentration auf Wesentliches.
Sowohl die Art des Rahmens, als auch das Ausmaß und die
Grenzen der Spielräume sollten jedoch transparent gemacht werden. Ganz in
diesem Sinne schlägt Fürst (1992, 98ff) vor, zwischen drei Entscheidungsebenen zu unterscheiden:
·
Vorgegebene
Bedingungen: Das sind all die Entscheidungen, die ein Leitungsteam im
Vorfeld der eigentlichen Arbeit mit den SchülerInnen fällt, und auch solche,
die es während des Kurses nicht den Jugendlichen überlassen kann. Beispiele
dafür sind eindeutige Sicherheitsvorgaben, Regelungen zum Schutz der Interessen
Dritter oder der Natur, aber auch eine logistische Vorauswahl und Beschränkung
auf bestimmte Aktivitäten.
·
Vereinbarte
Bedingungen: Das sind alle Entscheidungen, die zwischen SchülerInnen und
LehrerInnen gemeinsam ausgehandelt werden. Beispiele wären Vereinbarungen über
den zeitlichen Rahmen und über die Einschränkung von Ersatzbefriedigungen wie
Fernsehen, Walkman, Süßigkeiten sowie - bei älteren Jugendlichen - Zigaretten
und Alkohol.
·
Verantwortungsspielraum
der Gruppe: Das sind alle Entscheidungen, aus denen sich die LehrerInnen
bewußt heraushalten, um den SchülerInnen Erfahrungen der Selbstorganisation und
Selbstverantwortung zu ermöglichen. Hierunter fällt das Ausmaß des Einlassens
auf die Herausforderungen, Planungs- und Entscheidungsprozesse während der
Aufgaben und natürlich die Gestaltung der Freiräume innerhalb des Programms.
Die Zuordnung bestimmter Entscheidungen zu einer der Ebenen
wird von Gruppe zu Gruppe variieren. Ein Beispiel dafür ist die Haushalts- und
Essensplanung, die sowohl ein Gegenstand gemeinsamer Vereinbarungen sein als
auch vollständig in den Verantwortungsspielraum der Gruppe fallen kann. Die
LehrerInnen müssen ihre diesbezüglichen Toleranzschwellen vorher genau abwägen,
denn entscheidend ist, daß eingeräumte Entscheidungsspielräume auch tatsächlich
respektiert werden. Die Devise kann andererseits nicht leichtfertig „im
Zweifelsfall lieber weniger“ lauten. „Einschränkende Normen können den
Ernstcharakter einer erlebnispädagogischen Situation zunichte machen, wenn sie
inhaltlich unangemessen sind, zu hohe Anforderungen stellen oder zuviel Raum
einnehmen; sie dürfen daher den Rahmen nicht dominieren. Das positiv
Herausfordernde und das Unfertige müssen den Inhalt bestimmen, nicht die
Restriktionen, die auf bloße Unterlassung zielen“ (Fürst 1992, 111).
Schoel et al. (1988, 94ff) schlagen in diesem Sinne den
Abschluß eines „full value contract“,
einer Art grundlegenden Vertrages zwischen Leitungsteam und TeilnehmerInnen
vor. Drei wesentliche Vereinbarung bilden die Substanz dieses Vertrages:
- Die Vereinbarung, als Gruppe zusammenzuarbeiten und an
individuellen und gemeinsamen Zielsetzungen zu arbeiten.
- Die Vereinbarung, bestimmte Sicherheitsvorgaben und
Verhaltensrichtlinien zu respektieren.
- Die Vereinbarung, sich gegenseitig Rückmeldungen zu geben,
diese auch anzuhören und zu versuchen, das eigene Verhalten zu verändern, wenn
das angemessen erscheint.
In einem solchen Vertrag liegt die Chance, das Wesentliche
der erlebnispädagogischen Arbeit auf den Punkt zu bringen und für alle
Beteiligten transparent zu machen. Auch können potentiell destruktive Tendenzen
damit begrenzt werden. Die Vorgabe von Verhaltensrichtlinien und die Betonung
der Verhaltensänderung können andererseits relativ leicht auch einen
kontrollierenden Charakter bekommen und damit der Grundintention der
Selbstorganisation zuwider laufen. Diese Gefahr ist bei einem fest vorgegebenen
Vertrag natürlich größer, als bei einem Vertrag, in den alle Beteiligten ihre
Ideen eingebracht haben, und der immer wieder Gegenstand konstruktiver Verhandlungen
ist.
Unabhängig davon, ob man die Vereinbarungen mit den
SchülerInnen in eine vertragliche Form bringen will oder nicht, sollte eine
möglichst große Transparenz des
Angebots und der Arbeitsweise angestrebt werden. Drei Aspekte sollen
diesbezüglich hervorgehoben werden:
·
Bereits mit der Ausschreibung bzw.
Bekanntmachung des Angebots werden wesentliche Weichen gestellt. Es ist
verführerisch und auch viel einfacher, die spannenden Aktivitäten in den
Mittelpunkt der Darstellung zu setzen. Pädagogische Intentionen lassen sich
aber nicht so einfach nachschieben. Sie gar nicht transparent zu machen ist
nicht nur unredlich, sondern wird fast zwangsläufig zu Widerständen oder einer
Verflachung der Arbeit führen.
·
Zeit, die in gemeinsame Vorbesprechungen und Vorbereitungen
investiert wird, zahlt sich in diesem Sinne meistens gut aus. Dabei kann die
Interessenlage der SchülerInnen genauer erfragt werden, Sinn und Art der Arbeit
können anhand einer exemplarischen Erfahrung wie etwa eines einfachen
Kooperationsspiels veranschaulicht werden, und wichtige Vereinbarungen können
bereits im Vorfeld getroffen werden.
·
Während des Kursgeschehens bewegen sich die
LehrerInnen im Idealfall ständig flexibel zwischen verschiedenen Rollen hin und
her. Diese Rollen sollten vorher mit den SchülerInnen abgesprochen werden, und
der Charakter der Interventionen auf verschiedenen Ebenen sollte deutlich
unterscheidbar sein.
Erlebnispädagogik bietet den SchülerInnen Spielräume zur
Selbstorganisation in einem klar strukturierten und somit in seiner Reichweite
immer auch begrenzten Setting. Das beinhaltet die grundsätzliche Gefahr, daß
Selbstorganisation in routinemäßigen Abläufen auf ein Programmelement verkürzt
wird und die dahinter stehende Vision verloren geht.
Das Gegenstück zur Transparenz, die aktuellen Möglichkeiten
und Grenzen offen zu legen, ist daher die Offenheit,
diese Grenzen hinaus zu schieben und die Handlungsspielräume der
SchülerInnen zu erweitern, wenn sich eine Perspektive dazu aus dem gemeinsamen
Prozess heraus entwickelt.
Eine solche Einstellung weist auch allen Aktivitäten, Medien
und Methoden den ihnen gebührenden Platz zu: es sind Hilfsmittel, durch die
Lernen zu einer positiven Erfahrung werden soll, die sich dem Lernprozess
selbst aber immer unterzuordnen haben.
Offenheit impliziert auch ein verändertes Selbstverständnis der Lehrenden. Eine Metapher aus der
Seefahrt mag das vielleicht verdeutlichen. Das Leitbild wäre nicht das einer
Passagierfähre, die möglichst viele Menschen möglichst schnell auf einer
wohlbekannten Route zu einem wohlbekannten Zielhafen bringen soll. Passender
wäre vielmehr das Bild eines Segelschiffs, das zu einer Entdeckungsreise
aufbricht. Die Rollen und Verantwortungen auf einem solchen Schiff sind
keineswegs gleich verteilt, aber es wird sich um so besser vorwärts bewegen, je
mehr alle hinter dem Ziel der Reise stehen und Hand in Hand arbeiten. Kapitän
und Offiziere haben eine grobe Vorstellung von der Richtung, vor allem aber
verstehen sie genug von Navigation, um den Kurs immer wieder den aktuellen
Gegebenheiten anzupassen. Und warum wären sie schon auf einer Entdeckungsreise,
wenn nicht aus dem heimlichen Wunsch, unterwegs auf Dinge zu stoßen, die sie
niemals hätten voraussagen können?
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Veröffentlicht in:
Gilsdorf, R. & Volkert, K. (1999) - Abenteuer Schule. Augsburg, ZIEL
Quelle : kizzi.de/Leitgedanken.doc [Stand: Mai 2014]